Ganz normal

oben: Skizze von Wolfgang Stadter, unten: aus dem Archiv des Museum Neukölln

AND-15, FLU-08-19 & PAS-35: Von Zigeunern und anderen Zugezogenen: Endstation Paradies ist vielleicht zu hoch gegriffen, aber ein besseres Leben haben sich Migranten seit eh und je von ihrem neuen zu Hause erhofft – da hat sich seit 275 Jahren Böhmisches Dorf nicht viel getan. (mehr …)

Text:

Samstag, 16. Juni 2012

„Ein komplettes Roma-Dorf zieht nach Neukölln! 700 Einwohner sind schon übergesiedelt, der Rest soll bereits den Wechsel in die rumänische Berliner Enklave planen.“ (B.Z., 02.04.2012) „Die meisten sind sechs oder sieben Jahre alt, alle haben schwarze Haare und dunkle Augen. Es sind Roma-Kinder.“ (Die Welt kompakt, 18.04.2012)

Was sich hier wie der so oft beschworene „Untergang des Abendlandes“ – diesmal durch eine feindliche Invasion von schwarzhaarigen Roma-Kindern – anhört, ist leider eine mehr als gängige Art der medialen Berichterstattung über den Zuzug von Roma und Sinti nach Deutschland. Die ewigen Klischees über „Zigeuner“ werden wieder einmal aufgewärmt, die Vorurteile gefestigt und gierig stürzt man sich gemeinschaftlich in die recht trüben Nebelschwaden der Ignoranz. Man es hat es ja schließlich schon immer (nicht) gewusst.

„Die Roma- und Sintiverfolgung hat eine lange Tradition in Europa. Sie wurden immer als minderwertig dargestellt – heute noch. Über Zigeuner können sie mit allen schimpfen.“ Benjamin Marx hat frühzeitig seine eigenen Erfahrungen gemacht und ist als 6-Jähriger auf Zigeunerwallfahrten mit ihnen in Kontakt gekommen, hat mit den Kindern dort gespielt. Von daher sei das Thema Zigeuner für ihn immer positiv besetzt gewesen.

„Die verlassen sehr intakte Dörfer, um in einer Mietskaserne in Neukölln zu wohnen.“

Im Sommer 2011 hat Marx im Auftrag der katholischen Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft den Wohnkomplex an der Harzer Straße gekauft, in dem sich die reihenweise medial verwerteten Roma-Familien eingemietet haben – 137 Wohnungen mit einer Wohnfläche von 7500 Quadratmetern.

Ob diese Menschen, die es nun nach Neukölln verschlagen hat, gleich von der „Endstation Paradies“ geträumt haben, sei einmal dahingestellt. Sicherlich aber haben sie ihre Häuser, ihr Dorf und ihr bisheriges Leben aufgegeben, weil sie sich eine andere, eine bessere Zukunft erhofft haben.

Davon ist auch Benjamin Marx überzeugt: „Was die teilweise verlassen in Rumänien ist viel schöner als hier. Die Leute kommen aus der Not heraus hierher. Die verlassen sehr intakte Dörfer, um dann in einer Mietskaserne in Neukölln zu wohnen.“

Wie auf dem Dorf: 275 Jahre böhmische Kultur in Neukölln

Geschichte wiederholt sich – Teile davon zumindest. 275 Jahre ist es her, dass komplettes böhmisch-protestantisches Dorf nach Rixdorf ins heutige Neukölln kam und hier seine eigene Gemeinschaft gründete: 275 Jahre Böhmisches Dorf in Neukölln. Zwar war es weniger die ökonomische Situation, als vielmehr die Glaubensverfolgung, die sie hierher brachte, der Wunsch nach einer besseren Zukunft aber, die Sehnsucht nach der „Endstation Paradies“ ist bis heute gleich geblieben.

Was mittlerweile ganz offiziell als Bereicherung für Neukölln feierlich begangen wird, wurde damals nicht minder kritisch beäugt. Etwa 50 Jahre habe es gedauert, bis sich Deutsche und Böhmen allmählich untereinander mischten, meint Beate Motel, die sich mitunter um das Museum Böhmisches Dorf kümmert und deren Familie seit 1890 in demselben Haus wohnt. „Eigentlich hat nur der König sie willkommen geheißen. Er brauchte schlichtweg Arbeitskräfte und diese Böhmen brauchten Glaubensfreiheit. Das war ein sauberer Handel.“ Über 275 Jahre hinweg haben sich die böhmischen Rixdorfer viele Traditionen bewahrt und man kennt sich nach wie vor noch. „Das ist hier wie auf dem Dorf. Wenn mir Zucker fehlt, kann ich da klingeln gehen und krieg gleich noch einen Kaffee.“ Was den Böhmen so lange ihre Traditionen erhalten hat, würde man wohl heute unter Parallelgesellschaft verbuchen.

Die letzte Generation der Zugezogenen macht der nächsten Migrantengruppe das Leben schwer

Neukölln als Auffangbecken für Einwanderer – daran hat sich seit 275 Jahren nichts geändert. Man möchte doch meinen, die Roma in der Harzer Straße hätten mit einem solchem Umfeld ein vergleichsweise gutes Los gezogen, doch Benjamin Marx wiegelt ab: „In Neukölln kommt noch erschwerend hinzu, dass man sich in der Ablehnung der Zigeuner zwischen der Urbevölkerung und den Menschen mit Migrationshintergrund einig ist.“

Gerade die Kinder mit türkischem oder arabischem Hintergrund würden am meisten diskriminieren. „Die Eltern geben ihren Kindern Desinfektionsmittel mit, damit sie die Stühle abputzen können, weil vorher ein Roma drauf gesessen hat.“

Eine paradoxe Situation: Ausgerechnet die letzte Generation der Zugezogenen macht der nächsten Migrantengruppe das Leben schwer  – auch daran hat sich seit 275 Jahren nichts geändert: „So nahm die Widrigkeit bei den Böhmen gegen uns Gerlachsheimer [Böhmen] von Zeit zu Zeit zu, und sie hielten uns für irrig und fingen an, uns zu verfolgen,“ schrieb Jan Gilek seinerzeit in seinem Lebenslauf nieder.

Während die Böhmen vielleicht nicht das Paradies auf Erden vorgefunden haben, so hatte ihnen der König immerhin Land zugeteilt und ihnen die Ankunft mit einer vorübergehenden Steuerbefreiung erleichtert. Die Neuankömmlinge in der Harzer Straße hingegen mussten sich mit deutlich weniger paradiesischen Zuständen zufrieden geben. Müllberge, Ratten, freiliegende Elektrokabel in den Treppenhäusern, Fenster in den Wohnungen durch Folie provisorisch ersetzt: „Hier ist man sehr schnell seinen Sperrmüll losgeworden, das war Niemandsland. Niemand hat sich verantwortlich gefühlt.“

Zwischen Gaudí und Hundertwasser: ein Stückchen Paradies in Neukölln

Benjamin Marx fühlt sich verantwortlich. Und wie. Die Häuser werden seit letztem Jahr kernsaniert und umgebaut, ein extra Kulturraum soll entstehen und die ehemaligen Garagen im Hinterhof werden zu einer Werkstatt umfunktioniert. „Dass man hier einen positiven Akzent setzen musste, war klar.“

Bei einem Treffen mit einigen Beteiligten, die sich Marx für die Umsetzung seiner vielen Ideen für den Wohnkomplex mit ins Haus geholt hat, wird schnell klar, warum dieses Projekt nicht lang auf seine Umsetzung warten musste: Marx redet nicht nur, Marx macht. Wolfgang Stadter sitzt am Tisch und präsentiert seine Skizzen, die Marx ihm für die Bemalung der Innenfassaden in Auftrag gegeben hat. „Eine Mischung aus Gaudí und Hundertwasser“ wollte er haben, sieht sich die Skizzen kurz an und blickt zu Stadter herüber: „Wann fangen Sie an?“

Auch für die Werkstatt hat Marx sich mit einem Künstler vor Ort zusammen getan. Gerhard Bär arbeitet vor allem mit Abfallkunststoffen, stellt Kunst und Produkte aus Kunststoffmaterialien her, die sonst im Müll landen. „Soziales Plastik“ heißt seine Kunstaktion im Rahmen der 48 Stunden Neukölln. „Das hier ist natürlich ein toller Fall, dass ich die Möglichkeit hab, mit den ganzen Bewohnern dieses Areals gezielt arbeiten zu können und alle in irgendeiner Form an dem Projekt teilnehmen können, in dem sie ihre Kunststoffabfälle zur Verfügung stellen und damit natürlich einen Bezug dazu kriegen.“ Die ersten gemeinsamen Arbeiten sind bei 48 Stunden Neukölln zu sehen.

Ganz normal

Normalität ist eigentlich alles, wonach sich Benjamin Marx sehnt. „Dass man über dieses Haus gar nicht mehr spricht, dass es ein ganz normales Haus ist“, das wünsche er sich. Er setzt sich für die Roma ein, nicht weil sie Roma, sondern weil sie bedürftig sind und sich wahrscheinlich auch sonst niemand um sie kümmern würde. Ansonsten möchte er die noch leerstehenden Wohnungen aber nicht mehr an Roma vermieten, weil keine Enklave entstehen soll. Ganz normal soll alles sein, nur nichts Besonderes.

Und doch klingt das hier noch am ehesten nach der Endstation Paradies. Schön, wenn auch nur die Hälfte unserer Gesellschaft so normal wäre wie Benjamin Marx. Bei der Paradiesfrage meldet sich schließlich noch ein Mann in Priesterrobe aus der Gesprächsrunde zu Wort, der mit der katholischen „Gemeinschaft Offenes Herz“ auch in das Haus einziehen wird und bisher nur dasaß und zugehört hat. Pater Jean-Marie Porté meint, sie hätten die Erfahrung gemacht, dass das Paradies kein fernes Ding sei, sondern dort zu finden ist, wo der Mensch eben ein offenes Herz finde, wo er kommen kann und bedingungslos und absichtslos aufgenommen werde, wie er ist. „Das Paradies ist ein Ich und Du.“

AND-15: „Soziales Plastik“, Recycling Projekt von Gerhard Bär

Harzer Str. 65

PAS-35: „Böhmische Kaffetafel in der Kirchgasse“, Evang. Brüdergemeine Berlin, Kirchgasse 13-17 + 5, So 14:30 – 17:00

FLU-08-19 & REU-09-39: „Der Auszug der letzten Böhmen“, Theater der Gruppe Weltkultur Neukölln

Mainzer Str. 42: Sa 15:00 – 15:15, So 14:15 – 14:30; Vor der Hobrechtbrücke Friedelstr.: Sa 16:45 – 17:15, So 16:00 – 16:30

Isarstr. 3: Sa 15:45 – 16:00, So 14:45 – 15:00; Reuterstr. 31: Sa 16:15 – 16:30, So 15:15 – 15:30

Kommentare:

  • obwohl es von ihnen sicherlich anders intendiert ist, tappen auch sie beim schreiben ÜBER sinti und roma sehr schnell in die falle der generalisierung und stereotypisierung und landen schliesslich vollkommen unreflektiert im antiziganismus. ein artikel in der taz hat diese widersprüche und fallen m.e. kürzlich sehr gut dargestellt. http://www.taz.de/Sinti-und-Roma-in-der-Berichterstattung/!95057/ das diktum der „normalität“ lasse ich an dieser stelle einfach mal unkommentiert. ingesamt fehlt mir in ihrem artikel die empathie für die menschen, um die es in ihrem artikel geht.

  • Sabine sagt:

    Alles ganz schön erzählt aber wirklich ist, dass die katholische Kirche ein neues Ghetto in Neukölln gegründet hat. Oder was macht der Priester dagegen? nichts!! ich bin Nachbar und beobachte jeden Tag den Roma Teenagers, die zur Schule, zu Hause und auf dem Spielplatz gegenüber nur mit ihren Leute sind und auf rümänisch quatschen.Auf diese Weise ist es ganz und gar utopisch, dass diese jungen Leute Zukunft in Deutschland haben. Integration ist was anderes!!!

  • Steuerzahlerin sagt:

    Ein naiver Artikel.
    Die Kirche hat zwar das Haus bezahlt, aber dann fließen Steuergelder.

  • 5cents sagt:

    Allein Duisburg muss für nur 6200 Personen über 18 Mio an Erstmitteln finanzieren. Hinzu kommen die laufenden Hilfen. Es leben 10-12 Mio. Roma in Europa. Wenn DE die alle integrieren will, wird das aber sehr teuer. Die Länder Rumänien und Bulgarien rufen die EU-Mittel aus dem ESF nicht ab, obwohl dort 27 Mrd. für Roma an Hilfsgelder parken – dafür könnte man in den Heimatländern locker die Integration finanzieren. Stattdessen soll das pleitige DE das jetzt leisten???

    ich bin nicht mehr bereit dazu: warum nicht, hier die Erläuterung:

    im 7. Jahrhundert ist meine Familie aus dem Osten hier selber eingewandert, wir leben sehr lange hier. Seit meinem 18. Lebensjahr hab ich in DE gearbeitet, ich studier nebenbei hier,

    seit ca. 2002 stagniert mein Einkommen bei steigenden Kosten. Wärend in Dänemark die Löhne um 19% stiegen, sind sie in DE real um 0,8% gesunken.

    nun erzählen mir Politiker, dass die Rente für mich trotz Millionenfacher Einwanderung nachher nicht reicht und alle unter 2500 Bruttoeinkommen GruSiRentner werden müssen.

    warum sag ich trotz Millionenfacher Einwanderung:

    weil gesagt wird, das wären lauter Fachkräfte, die hier arbeiten, die ihre Kinder hier ausbilden.

    in Wirklichkeit kommen nur Ungebildete (wohne selber im Sozialen Brennpunkt), die meisten werden hier nie arbeiten, deren Kinder werden keine guten Schulabschlüsse und keine Ausbildung hier machen.

    Warum meine Toleranz am Ende ist:
    es werden einfach zu viele und es ist zu teuer geworden
    gleichzeitig wird der Arbeitnehmer hier finanziell zerquetscht – die Abgaben, Steuern und Maut — alles soll steigen, alles sollen nur Arbeitnehmer bezahlen.

    wär was anderes, wenn wir ein faires Steuersystem hätten, aber in DE finanzieren den ganzen Spaß nur noch Arbeitnehmer mit sinkendem Reallohn.

    nach dem Studium wander ich aus. Mir ist das hier zu viel geworden und es wird mir zu teuer.

    18 Mio nur als Anfangsbetrag für 6200 Leute

    und wenn nachher 600 000 oder noch mehr kommen?

    der Städtetag fordert eine höhere Mehrwertsteuer
    die EU eine PKW Maut auf allen Straßen , am teuersten wenn man zur Arbeit fahren muss.

    und keiner von den Einwanderern wird hier mal qualifiziert arbeiten, denn soviele Jobs für Ungelernte die mehr Einkommen als Hartz einbringen, haben wir ja nicht.

    also ich hab kein Geld mehr dafür – ich arbeite auch nicht mehr Vollzeit in DE — weil ich hier unter den 2500 Euro bin und damit auch nur GRUSI-Rente bekommen.

    für mich war es das nach dem Studium, dass ich extra gemacht hab, damit ich finanziell mal besser dastehe.

    ich geh nachher zum Leben ins Ausland und werde arbeitender Migrant anderswo.

    ich muss schließlich auch noch von irgendwas leben und brauch später auch ne auskömmliche Rente.

    für die lange hier lebenden ist wohl einfach kein Geld mehr da. Dann muss man sich über Ressentiments gegenüber ungebildeten, die hier nie arbeiten werden, aber nicht wundern.

  • 5cents sagt:

    der Arbeitnehmer ist in DE wirklich der Dumme.

    Arbeiten lohnt hier auch nicht mehr — der Bevölkerungsaustausch ist perfekt.

    DE kriegt die Ungebildeten und diejenigen, die noch hier arbeiten sollen das alles dann zahlen.

    Frauen die hier ewig gelebt haben mit deutschem Hintergrund sollen Vollzeit arbeiten, damit der Staat mehr Steuern einnimmt um Leute zu bezahlen, die sich mit Sozialhilfe ein fröhliches Leben machen, nie arbeiten, Analphabeten bleiben und ihre Kinder als Einkommensquelle betrachten, weil es mit jedem mehr Geld gibt.

    in Holland ist Sozialhilfe gedecktelt – ab Kind Nr. 3 gibts eben keinen höheren Betrag mehr.

    Der Sozialstaat wird dann ungerecht, wenn man mit Arbeiten und Geld verdienen schlechter dasteht, als wenn man gar nichts macht. Dann ist eine Grenze überschritten.

  • 5cents sagt:

    wenn ich 3 Kinder habe — dann steigt mein Einkommen auch nicht automatisch mit der Anzahl meiner Kinder

    ich muss dann mit dem Geld auskommen – das ist dann mein Privatvergnügen, ob ich mehr hab oder nicht

  • 5cents sagt:

    und der größte Witz ist: die meisten wollen mit den Ureinwohnern auch nichts zu tun haben. Viele wollen sich auch nicht integrieren.

    Die Großstädte in DE sollte man in 20 Jahren lieber meiden