Am 27. Januar 1912 raubt eine Entscheidung Kaiser Wilhelms II. einer ganzen Vorstadt seine Identität. Alt-Oberbürgermeister Hermann Boddin und Nachfolger Kurt Kaiser beknieten den preußischen Reserveoffizier so lange, bis dieser sein Einverständnis für die Umbenennung Rixdorfs und die Eingliederung in Groß-Berlin gab. Seither ist der neue Name deutsches Synonym für soziale Probleme jeglicher Couleur: Neukölln.
Der fadenscheinige Grund, dem damals vor Feiergelüsten strotzenden Ort seinen Namen zu stehlen, lag für Hermann Boddin vor allem darin, Hochbetagte und Bessergestellte nach Neukölln zu locken. Rixdorf mit seinem Image als „Ballermann des 19. Jahrhunderts“ vergraulte die feine Gesellschaft, die ihre vollen Taschen lieber auf dem Ku’damm anstatt auf der Bergstraße ausleerten. Der Plan ging nach hinten los.
Hermann Boddin: geistiger Vater der Gentrifizierung?
Was hat Hermann Boddin da nur angestellt? War Boddin womöglich Schwabe? Denn ginge es nach manch heutigem Gentrifizierungsgegner, würde man diese „besseren Herrschaften“ am liebsten in jenes ominöse Feindgebiet „Süddeutschland“ abschieben, da sie den Norden des Bezirks ja schon fast vollkommen überrannt haben. Die Mieten steigen. Soziale Verdrängungsmechanismen setzen ein. Die Spielplätze sind zum Mittelklasse-Catwalk verkommen. Es muss gehandelt werden! 100 Jahre sind 100 Jahre zuviel – die Rückbenennung ist längst überfällig! Scheiß auf Neukölln!
Die Vorteile sind überwältigend. Seitdem in den Kiezen fast stündlich neue Kneipen aufpoppen, herrscht in Rixdorf wieder richtig „Musicke“. Die grauen Tage des ehemaligen Randbezirks geprägt von Gewalt, Dreck und Drogen sind längst gezählt und eine erneute Imagekorrektur fällig. Der alte Name: die perfekte Tarnung.
Seelenlose Immobilienspekulanten finden den „hotspot“ Neukölln nicht mehr auf ihrer „target-map“. Nicht mal das integrierte Navigationsgerät im Audi TT kann weiterhelfen. Sackgasse, bitte wenden! Die Luxus-Renovierungen? In andere Stadtteile verlegt. Stabil sausen die Mieten nach unten. Alle Bewohner sind glücklich und feiern friedliche Feste auf den Straßen Rixdorfs. Exzesse. Orgien. Wie in den guten alten Zeiten!
Vorbei mit dem Herumgewulffe!
Rixdorf kann sich erneut von Groß-Berlin abspalten und als 17. Bundesland und 4. Stadtstaat seine angemessene Rolle in der deutschen Innen- und Sozialpolitik einnehmen. Der regierende Bürgermeister Heinz Buschkowsky zieht in den Bundesrat ein und sorgt dafür, dass Recht und Anstand in den Tempel der politischen Führungsriege zurückkehrt. Der (Tempel-)Retter aus Rixdorf. Vorbei mit dem Herumgewulffe! Rixdorf, das Original, ist zurück!
Allen Skeptikern sei gesagt, dass es für eine Intervention gegen den Plan bereits zu spät ist. Im Juli 2010 wurde während der kulturellen Instanz „48 Stunden“ in einer feierlichen Zeremonie bereits die Umbenennung vollzogen. Nur kleine infrastrukturelle Veränderungen fehlen, um den Vorgang abzuschließen – reine Formsache. Zitat aus der Festschrift: „Die ehemals schädlichen Prädikate des Quartiers sind inzwischen zu seiner Rettung geworden: Um sich zu vergnügen, zu tanzen und zu feiern, fährt der Berliner nach Nord-Neukölln. Wir Nord-Neuköllner sind nun wieder die Gastgeber für die vergnügungssüchtigen Hauptstädter und wir wollen den Namen unseres Viertels zurück: RIXDORF.“ Amen!
Leider klingt rixdorfer.net irgendwie total scheiße.
Am Mittwoch, den 25. Januar kann man sich um 17Uhr im Rathaus Neukölln selbst ein Bild von der historischen Debatte zur Umbennung machen. Als öffentliches Schauspiel wird sie in der Bezirksverordnetenversammlung anlässlich des 100. Geburtstags von Neukölln nachgespielt. Die entsprechende Ausstellung des Museum Neukölln zum Thema „Wie aus Rixdorf Neukölln wurde“ wird anschließend bis zum 24. Februar im Rathaus gastieren.