Text: Sarah Lehnert
Der Tip titelte 2009 „Weltberühmt in Neukölln: Fadi Saad„, die Berliner Zeitung bezeichnete ihn als „Neuköllns großen Bruder“ und der Berliner Kurier wählte 2008 die denkwürdige Dachzeile: „Fadi Saad: Früher prügelte er sich mit einer Gang durch Berlin, jetzt arbeitet er als Streetworker in Neukölln.“
Diese Zeilen sind zwar schon eine Weile her, die Berichterstattung über den Quartiersmanager – heute in Moabit-Ost, früher in Neukölln und Reinickendorf – reißt nicht ab. Wie sollte sie auch. Der 33-Jährige ist in der gesamten Republik präsent, vor allem dort, wo über Integration, Migration und Partizipation gesprochen wird, wo es um Engagement für Jugendliche und gegen Jugendgewalt geht, und um die sogenannten „sozialen Brennpunkte“ der Hauptstadt. 2006 begleitete er Angela Merkel in den Élysée-Palast und hat mittlerweile zwei, vor allem unter Jugendlichen, viel gelesene Bücher veröffentlicht. Das 2012 erschienene „Kampfzone Straße: Jugendliche Gewalttäter jetzt stoppen“ entstand in Zusammenarbeit mit dem Berliner Polizeihauptkommissar Karlheinz Gaertner.
neukoellner.net: Welches waren deine bisher intensivsten Erfahrungen?
Fadi Saad: Das Aufwachsen mit sieben Brüdern in einer Zweizimmerwohnung; das sind Sachen, die vergisst du nicht. Auch wenn ich an meine Grundschulzeit denke, erinnere ich mich daran, viele interessante Dinge gemacht zu haben, wie die Geschichts-AG oder die Leichtathletik-AG. Ein weiteres Highlight war der Übergang in die Oberschule und damit der erste Schritt ins Erwachsenwerden. Da war ich zwölf. Diese Zeit war interessant, denn ich fing an, viel über mich selbst zu erfahren.
Was genau hast du damals erfahren?
In der Grundschule warst du, wenn überhaupt unterschieden wurde, Muslim oder Christ. In der Oberschule wurdest du gefragt, was für ein Muslim bist du? Sunnit oder Schiit? Fallah (Bauer) oder Madani (Städter). Ich wusste damals nicht einmal, dass es diese Unterscheidungen überhaupt gibt. Ich kannte mich nicht aus, war als Kind und Jugendlicher so gut wie nie in der Moschee.
Auf der Oberschule erfuhrst du dann zum ersten Mal etwas über deine Wurzeln?
Ja. Meine Eltern erzählten mir dann, dass ich Sunnit sei. Plötzlich habe ich angefangen, Stellung zu meiner Identität zu beziehen. Eine Identität, die ich eigentlich gar nicht besaß. Klar meine Eltern waren Muslime, Sunniten. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich damit etwas zu tun hatte. Trotzdem stellte ich mich so dar, als wäre ich es.
Warum hast du das getan, wenn es dich doch gar nicht interessiert hat?
Irgendwie versteckst du dich hinter deiner vermeintlichen Identität. Das Problem ist, und das wurde mir erst auf der Oberschule bewusst, dass dich die meisten Deutschen gar nicht erst Deutscher sein lassen, wenn du eben keine deutschen Wurzeln hast. Selbst wenn du behaupten würdest, dass du Berliner bist, dass du hier wie jeder andere aufgewachsen bist, lassen das die meisten Leute nicht gelten.
Wenn sie nicht glauben konnten, dass du Deutscher bist, was wollen sie dann von dir hören? Dass du Araber, Libanese oder Palästinenser bist?
Ja. Wenn ich gefragt werde: Was bist du eigentlich? behauptet ich immer, ich sei Sunnit und Palästinenser, wobei ich Palästina noch nie gesehen habe. Damit sind die meisten Leute dann aber zufrieden. Wenn ich mit Jugendlichen über Ideale spreche, beispielsweise aus dem Dritten Reich, heißt es immer: deutsch, blond, 1,80 Meter. Solange du schwarze Haare hast, bist du auch kein Deutscher. In der Oberstufe wurdest du dann mit dem Nahostkonflikt konfrontiert. Du wurdest nach Palästina befragt oder nach dem Libanon…
Sie wussten, dass deine Eltern als Flüchtlinge im Libanon gelebt haben?
Ja, aber ich selbst wusste kaum etwas darüber. Meine Eltern haben mir das alles erst sehr viel später erzählt. Als sie es dann taten, war es vielleicht zu spät. Drei Jahre bevor ich geboren wurde, kamen beide nach Berlin. Daher lag ihre Sichtweise auf den Libanon 13 oder 14 Jahre zurück. Ich wusste als Kind und Jugendlicher nicht wirklich, woher ich komme. 1996, also mit 17, bin ich dann zum ersten Mal in den Libanon gereist. Das war ein Kulturschock.
Warum?
Ich kam dorthin als Tourist. Das, was ich über das Land wusste, kannte ich aus den Medien. Die deutsche Berichterstattung über arabische Länder ist oftmals sehr einseitig. Meistens geht es dabei um Krieg, Armut und Unterdrückung. Und mit diesem Bild bin ich dann auch dorthin gefahren. Ich dachte, dass alle Männer einen Bart und alle Frauen einen Schleier tragen und sich die Menschen auf Kamelen fortbewegen würden. Schlussendlich war es dann doch anders.
Würdest du sagen, du hast dich bewusst von den Deutschen abgegrenzt hast?
Nein, das nicht. Es ist eher so, dass ich in zwei Welten gelebt habe. Wenn nicht sogar in drei. In der Schule lebte ich mit den Werten und Normen der Deutschen und zu Hause mit den Traditionen und Werten meiner Eltern. Und ich lebte in einer dritten Kultur. Eine, von der in den Medien nur sehr selten gesprochen wird: die Deuraber-Kultur.
Was bedeutet das, Deuraber?
Wenn ich mit meinen deutsch-arabischen Freunden zusammen war, sprachen wir Deurabisch. So ganz selbstverständlich entstanden Sätze wie: Yalla kommst du mit Albeyt? Wir haben gelernt unsere eigene Sprache und Kultur zu entwickeln; eine Mischung aus der Deutschen und der Arabischen. Du hast dieses Coole und Lässige im Umgang mit deinen Freunden und den Gehorsam in der Schule. Zu Hause bist du dann mit dieser Höflichkeit aus dem Islamischen umgeben, was gehört sich, was gehört sich nicht. Somit haben wir angefangen unsere eigene Kultur zu entwickeln. Du springst richtig in diesen drei Welten. Es ist eine Stärke das zu können.
Ich stell mir das auch sehr belastend vor…
Naja, es führt zu Reibungen. Wir Menschen sind Schauspieler. Bei deinen Eltern hast du ein ganz anderes Verhalten und Benehmen als in der Schule und in deinem Freundeskreis. Und du versuchst es jedem recht zu machen. Das kann schon belastend sein.
Ab der achten Klasse gingst du kaum noch in die Schule. Waren das Schulschwänzen und der Eintritt in die Gang eine Rebellion gegen den Druck?
Ich weiß nicht, ob es direkt eine Rebellion gegen meine Eltern oder die Schule war. Ich hatte einfach keinen Bock mehr auf die Schule. Aber generell habe ich mich immer gut mit meinen Eltern verstanden. Mein Vater beispielsweise ist mit mir und meinen Geschwistern ganz Berlin zu Fuß abgelaufen. Als Kind kannte ich die ganze Stadt. Auch habe ich meine Hausaufgaben auf dem Fußboden gemacht, aber ich fühlte mich nie schlecht dabei. Ich hatte ja keine Vergleichsmöglichkeiten.
Wie kam es also dazu, dass du dich der Jugendgang „Araber Boys 21“ angeschlossen hast?
Ab der fünften Klasse verschlechterten sich meine schulischen Leistungen. Ich kam auf die Hauptschule, aber das war mir egal. Die meisten aus meiner Klasse und im Kiez waren Türken, nur wenige Jugendliche arabischer Herkunft. Ich wurde mehrmals von anderen Jugendlichen aus meinem Kiez abgezogen und verprügelt. Durch einen Bekannten lernte ich den Jugendclub „Zille“ in Wedding kennen, wo ich Gleichaltrigen mit arabischen Wurzeln begegnet bin, den „Araber Boys“. Durch die Jungs habe ich viel über mein Heimatland erfahren. Sie waren Palästinenser oder Libanesen. Von ihnen hörte ich die Geschichten, die ich von meinen Eltern nicht kannte. Die Jungs haben auch von dem Krieg im Libanon erzählt. Aber nicht in der Form: Krieg ist schlecht. Sie haben damit geprahlt, dass sie mit Waffen gekämpft haben. Und du bist davon beeindruckt, dass sie mit echten Waffen geschossen haben.
Haben sie wirklich geschossen?
Das ist schwer einzuschätzen. Möglich. Auf jeden Fall fand ich in den Araber Boys Leute, die mich akzeptiert haben, die nicht danach fragten, woher ich komme oder wer ich bin. Es waren Leute, die für mich da waren. Du gehst ja nicht eine Gang, weil du kriminell werden willst.
Was hat sich verändert nach dem Einstieg in die Gruppe?
Ich besorgte mir eine Jacke, bügelte das Logo „The Araber Boys 21“ darauf und lernte, immer ein Messer bei mir zu tragen und mich zu prügeln.
Gab es Hierarchien in der Gang?
Klar. Es gab den Anführer, und die Älteren hatten sowieso das Sagen.
Du warst einer der Jüngsten in der Gruppe. Was für Konsequenzen hatte das für dich?
Ich war dreizehn als ich in die Gruppe einstieg. Ich hatte es mir anders vorgestellt und dachte zu Anfang, wir würden uns in Jugendzentren treffen und nur dann kämpfen, wenn uns jemand angreift. Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt, wieder auszusteigen, aber das war unmöglich. Mir wurde es vor der Mutprobe nicht gesagt, aber: Bist du einmal Mitglied, gibt es kein Zurück mehr. Ich habe mich nicht immer freiwillig dazu entschieden, Leute zu bestehlen oder zu verprügeln, aber du hast diesen Gruppenzwang und musst das machen, was dir die Älteren sagen.
Wie habt ihr euch in der Gegenwart von Polizisten verhalten?
Wenn die Polizei kam, waren sich alle Gangs untereinander einig – ob sie Rivalen waren oder nicht: die Polizei war der Gegner. Mit der Polizei hatten wir des Öfteren Auseinandersetzungen und das klang dann so: Fass mich nicht an, gib mir deine Dienstnummer! Das war das typische Gehabe.
Nach einem Jahr in der Gruppe, mit vierzehn, kamst du in den Jugendarrest. Weshalb?
Das weiß ich nicht mehr. Die Strafanzeigen gegen mich hatten sich mit der Zeit gehäuft. Angeklagt wurde ich wegen Körperverletzung und Nötigung. Zum Zeitpunkt der meisten Straftaten war ich allerdings noch keine vierzehn. Die Polizei hat dann immer zu mir gesagt: Warte nur bis du vierzehn bist, dann kommst du hinter Gitter!
Welche Gedanken kamen dir während des Arrests?
Der Jugendarrest ging über drei Tage. Es war schrecklich eng und kalt eingerichtet, nicht im Ansatz so cool, wie die Jungs es erzählt hatten. Ich musste an meine Mutter denken und daran, wie enttäuscht sie von mir war. Daran, wie sie mich angeschaut hatte, als ich fortging. Mir gingen Fragen durch den Kopf wie: Wo waren meine sogenannten Freunde? Wie konnte ich meine Familie so enttäuschen? Wie geht es jetzt mit mir weiter?
Nach dem Arrest bist du ausgestiegen aus der Gang.
Mein Vorteil war, dass sich die Gruppe ohnehin aufzulösen begann. Der Großteil war erwachsen geworden, hat geheiratet oder wurde abgeschoben. Mit dem Jugendknast kam der Punkt, an dem ich begriffen hatte, dass man wirklich in die Zelle kommen kann. Und so beschloss ich, den geraden Weg zu finden, Abschlüsse nachzuholen, eine Ausbildung zu beginnen und meine Eltern stolz zu machen.
Haben deine Eltern bereits vor dem Arrest gewusst, dass du stiehlst und dich prügelst?
Ja. Sie haben das natürlich durch die Anzeigen mitbekommen. Da war es aber schon zu spät. Ich hing schon viel zu tief drin. Du fängst an, mit dem kriminellen Alltag zu leben.
Wie haben sie auf diesen Alltag reagiert?
Mit Gesprächen. Sie haben versucht, mit den Klassenlehrern zu sprechen. Aber natürlich waren sie überfordert. Mein Vater hat den ganzen Tag als Koch in einem Restaurant gearbeitet und meine Mutter sprach kaum Deutsch. Sie konnten kaum etwas tun.
Wie haben deine Eltern die ersten Jahre in Deutschland erlebt?
Meine Eltern kamen 1978 zwar nach Deutschland, hatten aber bis Ende der 1980er Jahre noch den Flüchtlingsstatus. Ich kann mich daran erinnern, wie wir immer vor der Ausländerpolizei in der Amrumer Straße Ecke Friedrich-Krause Straße standen. Wir mussten dort an einer Schlange anstehen, die bis nach draußen führte, bei jedem Wetter. Daneben gab es eine Imbissbude. Da haben wir Kinder immer Pommes bekommen. Heute weiß ich natürlich warum meine Eltern dort anstanden. Es ging um die Verlängerung der Duldung.
Du hast sieben Brüder. Waren auch sie Mitglieder in einer Gang?
Jeder von uns ging seinen eigenen „Weg“. Sie hatten auch keine Motivation, in die Schule zu gehen. Die Jüngeren machen es den Älteren nach.
Wie willst du verhindern, dass deine Kinder in dieselbe Schiene abgleiten? Sie gehen schließlich im gleichen Bezirk zur Schule, in dem du einst zu den „Araber Boys 21“ gefunden hast.
Es ist natürlich schwierig. Ich zum Beispiel hatte die besten Möglichkeiten, schulisch gesehen. Ich war Klassenbester. Mein Vater hatte mir den Rat gegeben, ich solle mich mit Leuten treffen, die schlauer sind als ich. Anfangs hab ich das gemacht. Da war ich elf oder zwölf Jahre. Aber auch dein außerschulisches Umfeld prägt dich. Du bist ja nicht Tag und Nacht an der Schule.
Auch auf meine Kinder habe ich zwischen 8 und 16 Uhr keinen Einfluss. Du kannst nur versuchen zu verhindern, dass sie einen zu großen Freiraum haben. Meine Kinder gehen am Donnerstag zum Fußballtraining, der Große hat danach noch einen Breakdance-Kurs. Am Freitag gehen beide zum Schwimmtraining und am Wochenende stehen meistens Fußballturniere an. Beide Kinder werden zur Schule gefahren und von uns wieder abgeholt. Ich will nicht riskieren, dass sie ihre Erfahrungen machen. Das ist ein typisch deutscher Satz: Kinder müssen ihre Erfahrungen machen. Das will ich nicht. Gestern wollte ich sie von der Schule abholen und sehe, dass zwei Jungs neben der Schule Papier anzuzünden. Ich habe mir die beiden geschnappt und gesehen, dass es Schulkollegen meines Sohnes waren.
Was denkst du, unterscheidet dich von den ehemaligen Gang-Mitgliedern?
Die Möglichkeiten. Ich war der deutschen Sprache weitaus mächtig, konnte immer besser Deutsch als Arabisch und hatte eine funktionierende Familie. Ein Großteil der Jugendlichen in der Gang war ohne Familie hier in Deutschland. Sie waren Flüchtlinge, ohne Perspektive.
Nach deiner Ausbildung zum Bürokaufmann hast du in verschiedenen sozialen Einrichtungen gearbeitet. 2006 wurdest du dann Quartiersmanager von Neukölln. Wie kam das?
2002 war ich Praktikant am arabischen Kulturinstitut im Neuköllner Rollbergviertel. Dort bin ich in die Kinder- und Jugendarbeit gerutscht und habe gemerkt, dass ich das kann. Ich war in der fünften Klasse schließlich Schülerlotse (lacht). Ich beherrschte die Sprache der Kinder und Jugendlichen und habe selbst Erfahrungen mit dem Jugendamt, dem Polizeirevier und der Schulbehörde gemacht. Ich wechselte nach dem Praktikum direkt in die Verwaltung des Instituts und leitete nebenher ein Fußballtraining für Kinder und Jugendliche. 2005 fing ich als Verwaltungskraft im Nachbarschaftsheim Neukölln e.V. an. 2006 gehörte ich dann zum Vor-Ort-Team des Quartiersmanagements im Körnerpark in Neukölln. Ich war schon während meines Praktikums am Kulturinstitut von der Tätigkeit des Quartiersmanagers fasziniert gewesen und war zunächst glücklich über diese Chance.
Du sprichst davon, dass du ein Talent für die Arbeit mit Jugendlichen besitzt. Aber bereits im Nachbarschaftsheim Neukölln e.V. warst du „nur“ im Verwaltungsbereich tätig. Auch die Arbeit als Quartiersmanager hat wenig mit der reinen Sozialarbeit zu tun. Wieso arbeitest du nicht als klassischer Streetworker?
Das würde ich gern. Ich habe die Bereitschaft, die Welt der Jugendlichen zu verstehen und sie merken das und sind so dankbar dafür. Aber in diesem Land zählt eben nicht, was du kannst, sondern welchen Titel du hast. Und ich habe kein Studium als Sozialarbeiter. Wenn ich als reiner Streetworker arbeiten möchte, dann bekomme ich höchstens eine Honorarstelle und 10 Euro pro Stunde. Du kommst nicht weiter, ohne Abschluss in diesem Land.
Seit deinem Vortrag im Élysée-Palast wird viel über dich berichtet. Zu Beginn der Berichterstattung klangen die Zeilen etwa so: “Vom Ex-Schläger zum Buchautor“. Wie hast du darauf reagiert?
Es macht mich wütend, dass es das ist, was bei den Leuten hängen bleibt. Ich war in einer Jugendgang und nicht kriminell. Bei den Gangs handelt es sich nicht um organisierte Kriminalität, also kein Drogen-, Waffen- oder Menschenhandel. Letztens hat mich eine Dame im ICE angesprochen und gefragt: Sind Sie nicht der Kriminelle aus Berlin? Ich konnte es nicht glauben. Ich meine, ich habe zwei Bücher geschrieben, habe Auszeichnungen dafür erhalten. Ich arbeite als Quartiersmanager, baue unzählige soziale Projekte auf und das Einzige, was in den Berichten hängen bleibt ist: Du bist doch dieser Kriminelle!
Im Jahr 2008 erschien dein erstes Buch „Der Große Bruder von Neukölln“. Wie kam es dazu? Einen Verlag zu finden, der die Autobiographie eines Unbekannten druckt, ist sehr schwierig.
Der Herder-Verlag hat sich bei mir gemeldet. Seit meinem Vortrag an der Seite von Angela Merkel und Jacques Chirac wurde viel über mich geschrieben. Die Berliner Zeitung etwa titelte „Neuköllns Großer Bruder“. So ist auch der Titel meines Buches entstanden.
Wie hast du Angela Merkel während eurer Reise erlebt?
Nett und gestresst.
Zusammen mit dem Polizeihauptkommissar Karlheinz Gaertner hast du im April 2012 ein weiteres Buch mit dem Titel „Kampfzone Straße – Jugendliche Gewalttäter jetzt stoppen“ veröffentlicht. Wie kam es zu dieser Kooperation?
Während meiner Arbeit als Stadtteilmanager im Körnerpark habe ich Karlheinz Gaertner kennengelernt. Zusammen überlegten wir, wie wir die Vorurteile der Jugendlichen gegenüber der Polizei abbauen könnten. Wir wollten eine gewaltfreie Zone im Kiez schaffen, denn ein großes Problem bei den Jugendlichen ist das Tragen von Messern. Gemeinsam haben wir dann ein Fußballturnier, den „Körnercup“, unter dem Motto „Gemeinsam für Toleranz und Respekt“ organisiert. Es folgten weitere gemeinsame Projekte. 2011 entschlossen wir uns dann dazu, unsere Erfahrungen aufzuschreiben. Er aus seiner und ich aus meiner Perspektive. Wir haben uns mit dem Schreiben abgewechselt. Erst hat er etwas geschrieben. Dann ich und umgekehrt.
Hast du mit den beiden Büchern Geld verdient?
Naja, sie sind kein Bestseller und ich verdiene auch nicht viel an den Büchern, dafür aber an den Lesungen. Aber darum geht es mir auch nicht. Die Exemplare haben sich gut verkauft, weil vor allem Jugendliche sie gekauft haben. Von ihnen habe ich gehört, dass sie bis dahin noch nie ein Buch gelesen hatten und „Der Große Bruder von Neukölln“ das erste ihres Lebens sei.
Wie reagierst du heute auf eine Schlägerei?
Ich gehe dazwischen. Wir leben in einer Gesellschaft des Wegschauens. Früher haben wir uns in abgelegenen Parks geprügelt. Heute verprügeln sich die Jungs mitten auf der Straße. Ich bin in der Lage dazwischenzugehen. Ich habe lange Kampfsport betrieben. Aber ich möchte auch andere dazu bewegen, Gesicht zu zeigen und nicht wegzuschauen.