Der Tunnelbauer

Hotspot für Berliner Fluchttunnel: die Heidelberger Straße in Neukölln 1962- Quelle: BStU / mit freundlicher Genehmigung

Boris Franzke gehört zu den emsigsten Fluchttunnelbauern Berlins Anfang der 1960er Jahre. Ort der Wahl für den Tunnelexperten ist die Heidelberger Straße in Neukölln; denn nirgends waren die Bedingungen für Fluchttunnel besser. (mehr …)

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Sonntag, 10. Juni 2018

Von Emmanuelle François

Als die Berliner Mauer 1961 die Stadt trennt, ist Boris Franzke 22 Jahre alt und lebt in Schöneberg. Franzkes Familie nebst der Verlobten Ingrid und alle Freunde wohnen jedoch im Prenzlauer Berg und in Weissensee. Das heißt im Osten, auf der anderen Seite der Mauer. „Der Mauerbau kam als völlige Überraschung über uns“ erzählt der 78-Jährige neukoellner.net in seiner Marienfelder Wohnung. „Ingrid, meine Verlobte, war ein hübsches Mädchen. Ich wollte sie unbedingt rüberholen.“ Einen Mitstreiter findet Boris Franzke in seinem Bruder Eduard, der dasselbe Problem hat. Auch er lebt in West-Berlin, Frau und Kinder aber im Ostteil der Stadt. Als West-Berliner hat der Familienvater keine Chance ein Visum für Ost-Berlin zu bekommen. Eduard ist derjenige, der die Idee hat, einen Fluchttunnel für die Familie zu graben.

Boris Franzke um 1961/1962 – Quelle : Archiv Boris Franzke / mit freundlicher Genehmigung

„Wir fingen an, die Grenze entlangzufahren, um die besten Orte zu finden, über die man auf die andere Seite gelangt, so Boris Franzke. Schließlich werden sie in Neukölln fündig, wo die Mauer die Heidelberger Straße halbiert – zwischen dem West-Bezirk Neukölln und Treptow im Osten. Hier scheint ihnen der ideale Ort zu sein, um rasch einen Fluchtstollen zu graben. Drei Vorteile sprechen für die Heidelberger Straße: An kaum einen anderen Ort in Berlin ist der Abstand zwischen Ost und West so gering. Laut „Unterirdisch in die Freiheit“ vom Verein Berliner Unterwelten, trennen nur 15 bis 18 Meter die Außenwände der Häuser, die in Ost und West die Straße säumen. Hinzu kommt: An vielen Grenzstraßen sind die Wohnungen Ruinen, aber in der Heidelberger Straße sind sie intakt. Den Zugang zu den dortigen Wohnungen und Läden können die Grenztruppen nicht einfach sperren. Zudem wird der sandige Boden in der Heidelberger Straße von einer Torfschicht abgedeckt. Während es sich im sandigen Erdreich leicht graben lässt, erleichtert die Torfschicht das Abstützen von Stollen.

Diese Vorteile machen die Heidelberger Straße zum Berliner Hotspot für Tunnelgräber. Laut dem Verein Berliner Unterwelten werden nirgendwo in der Stadt mehr Fluchttunnel angelegt. In den 14 Monaten nach dem Mauerbau graben Fluchthelfer dort elf Tunnel, über die fast 130 Ost-Berliner aus der DDR-Diktatur fliehen können. Boris und Eduard Franzke beginnen mit dem Bau ihres ersten Neuköllner Fluchttunnels im Februar 1962. Ausgangspunkt ist ein unbewohnter Neubau in der Heidelberger Straße 26/27. Mit Schaufeln und Licht von Taschenlampen graben sie mit Freunden fast pausenlos in Richtung Endziel – einer leer stehenden Garage auf der Ostseite der Heidelberger Straße, Hausnummer 83. „Wir mussten stets in sehr kurzen Zeitintervallen wechseln, denn die Luft drinnen war extrem dünn, so dass wir schnell Kopfschmerzen bekamen,“ erinnert sich Boris Franzke.

In West-Berlin entsteht bald eine regelrechte Tunnelgräber-Szene. Einen Tunnel zu graben bedeutet, ein bis vier Wochen meist unterirdisch zu leben, mit der Hoffnung, Verwandte und Freunde in die BRD zu bringen. Duschen und Zähneputzen fallen weg. Boris Franzke: „Wir waren ein Team von drei bis vier Personen, und sahen aus wie Neandertaler. Man hätte denken können, dass wir uns unter diesen Bedingungen gestritten haben, aber das war nie des Fall. Wir sind bestens miteinander klargekommen.“ Auch wegen dem dichten Spitzelnetz der Stasi dürfen die Fluchttunnelhelfer die Stollen nicht verlassen; Kuriere kommen stattdessen vorbei. „Auch die westlichen Behörden haben uns nicht geholfen. Im Gegenteil, erfuhren sie von Grabungen, haben sie diese unterbunden,“ erinnert sich Franzke. Dieser Druck und die gemeinsame Motivation schweißt die Männer zusammen. „Wir Berliner Tunnelbauer haben uns gegenseitig geholfen, mit Material und Arbeitskraft“ so Boris Franzke. Er selbst ist sogar zum Äußersten bereit und trägt stets eine 9-Millimeter Pistole aus dem Krieg bei sich.

Keller des Hauses Heidelberger Straße 75., durchbrochen von Boris Franzke – Quelle : BStU / mit freundlicher Genehmigung

Nachdem der Tunnel der Brüder Franzke vom Februar 1962 schon 22 Meter lang ist, versuchen sie den Durchbruch. Das stellt sich als Fehler heraus, denn sie stoßen im hell beleuchteten Mauer-Todesstreifen an die Oberfläche. „Wir haben das Loch schnell wieder dicht gemacht. Nach ein paar Metern weitergraben, haben wir dann die Heidelberger Straße 83 erreicht.“ Aber vergeblich: Bevor die Familie zum Tunnel gelangt, wird dieser verraten. Bis heute ist nicht bekannt von wem. Die Folgen sind furchtbar. Mutter und Geschwister werden verhaftet ebenso wie Boris‘ Verlobte Ingrid und Freunde. Alle kommen für einen Zeitraum zwischen zwei und fünf Jahren ins Gefängnis. Nur die Mutter wird wegen ihres hohen Alters verschont.

Skizze der Stasi zum Tunnel zwischen den Häusern Heidelberger Str. 35 und 75 – Quelle : BStU / mit freundlicher Genehmigung

Das Scheitern des Tunnelprojekts hat jedoch keinen Einfluss auf Boris Franzkes Motivation. Im Gegenteil. Boris Franzke: „Wir waren extrem wütend nach der Verhaftung unserer Familie. Für Politik haben wir uns eigentlich nicht interessiert, aber wir wollten nun der DDR schaden und sie schwächen.“ Aber auch die hat es auf die Brüder abgesehen und versucht ihnen eine Falle zu stellen. Im April 1962 nimmt ein Stasi-Spitzel mit dem Decknamen „Freddy“ Kontakt mit Boris Franzke auf. Der Stasi-Mitarbeiter gibt vor, dass er ein Mann sei, der seiner Familie aus dem Osten die Flucht ermöglichen wolle. Er habe gehört, dass Boris Franzke helfen könne. Der aber merkt, dass Details in Freddys Geschichte nicht stimmen, und ruft die Polizei, die den Spitzel festnimmt. Ohne handfeste Beweise muss sie den Stasi-Mann allerdings bald wieder frei lassen. Trotz des Spitzels setzt Boris Franzke seine Tunnelgrabungen fort. Drei seiner sieben Stollen gräbt er in der Heidelberger Straße, trotz weiterer Rückschläge. So wird eines seiner Neuköllner Tunnelprojekte gestoppt, weil sich eine Mieterin bei der Polizei beschwert. „Ihr war egal, dass wir Verwandte im Osten hatte,“ erzählt Boris Franzke. Doch am 28. März 1963 kommt der Erfolg. Über einen Tunnel der Franzkes zwischen den Nummern 35 (West) und 75 (Ost) in der Heidelberger Straße gelingt zwanzig Menschen die Flucht aus der DDR.

In der Folge wird das Anlegen von Fluchttunneln aber immer schwieriger. In der Heidelberger Straße bauen die DDR-Grenztruppen im Frühjahr 1963 einen 2,5 Meter tiefen Tunnelsperrgraben Dieser verhindert dort nun unterirdische Fluchtwege. Dazu verstärkt die Stasi ihre Beobachtung der Häuserzeilen am Mauer-Todesstreifen. Die Hochzeit der Berliner Fluchttunnel ist vorbei. Nach 1964 werden nur noch wenige Stollen gegraben. Auch Boris Franzkes hört auf, Tunnel anzulegen. Seine Verlobte Ingrid hat er nie wieder gesehen. „Sie ist bereits 1962 oder 1963 gestorben. Sie war auch unter ständiger Beobachtung, weil ich als Fluchttunnelhelfer bekannt war.“ Boris Franzke lebt nun sein Leben. Er lernt den Maler-Beruf, gründet eine Familie. Seine Vergangenheit als Tunnelgräber vergisst er aber nicht: „Ich gebe jetzt noch Konferenzen, und halte auch Vorträge in der Schulen. Die Leute finden das immer wieder erstaunlich, dass wir eine so gefährliche Sache gemacht haben. Natürlich war das gefährlich, aber wir hatten den Krieg und die Nachkriegszeit überlebt. Wir waren Wolfskinder, aus einem anderen Holz gemacht.“

Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit dem Kurs „Kommunismus in Neukölln“ der Volkshochschule Neukölln.