Revolutionär wider Willen

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Nach dem Krieg avancierten Max Reichpietsch und Albin Köbis zu „Märtyrern der Revolution“ (Postkarte: Stadtmuseum Leipzig)

Noch in der DDR wird der Neuköllner Max Reichpietsch als linke Revolutionsikone verehrt. Am 5. September 1917 ließ die Kriegsmarine des Kaiserreichs den Matrosen  hinrichten – wegen versuchten Aufstands. Dabei hatte sich Reichpietsch einst freiwillig für den Militärdienst entschieden. (mehr …)

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Freitag, 23. März 2018

Von Philipp Winkler

Max Reichpietsch ist nicht der geborene Revoluzzer. Als ältester Sohn des Portiers und strenggläubigen Baptisten Hermann Reichpietsch, kam er am 24. Oktober 1894 in Neukölln zur Welt. Mit nur 14 Jahren verließ er die Volksschule und schlug sich mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten durch – bei der Berliner Müllabfuhr, in einer Schraubenfabrik, als Zimmermann. Mit 18 Jahren meldete sich Reichpietsch freiwillig zur kaiserlichen Marine. Zwei Jahre später zog er bereitwillig in den Ersten Weltkrieg, bewährte sich 1916 in der blutigen Seeschlacht am Skagerrak, der größten des Krieges. Doch nicht die Kriegsgräuel wecken seinen Widerstand gegen die Militärführung, sondern die unerträglichen Zustände an Bord der Schiffe und das Elend in der Bevölkerung.

Dauernde Schikane

Die deutsche Hochseeflotte zeigte sich der britischen zur See nicht gewachsen und rostete die meiste Zeit des Krieges in den Häfen vor sich hin. Gegen die Untätigkeit verordnete die Flottenführung endlose Exerzierübungen, die die Matrosen zunehmend als sinnlose Schikane empfanden. Dem brutalen Drill versuchte sich Max Reichpietsch immer öfter zu entziehen: Er kam zu spät, blieb dem Dienst fern, war ungehorsam. Dabei wurden selbst kleinste Vergehen häufig drakonisch bestraft: Weil er sich die Stiefel eines Offiziers geliehen hatte, musste Reichpietsch eine fünfmonatige Haftstrafe absitzen. Seinen kargen Sold – ein Bruchteil dessen, was die Offiziere verdienten – versuchte er mit dem illegalen Handel von Zigaretten aufzubessern. Reichpietschs Vorgesetzte, ohne jegliches Gespür für die miesen Zustände an Bord der Schiffe, beurteilten ihn als „gut begabt, aber träge und liederlich, von unlauterem Charakter, leistet Geringes.“

Im Frühjahr 1917 kippte die Stimmung an Bord der Schiffe. Eine Hungersnot im „Steckrübenwinter“ davor hatte die ohnehin mangelhafte Verpflegung der Mannschaften weiter verschlechtert, während die Offiziere in Saus und Braus lebten. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der russischen Februarrevolution politisierten sich die Matrosen zusehends. Nach ersten, spontanen Aktionen, begannen sie ihren Protest zu organisieren. Gerade Max Reichpietsch half dabei, eine Verpflegungskomission der Matrosen durchzusetzen. Über diese konnten die einfachen Seeleute zumindest die Bücher einsehen und so eine indirekte Kontrolle über die Lebesnmittelversorgung ausüben. Dieses Engagement macht Reichpietsch außerordentlich beliebt bei seinen Kameraden. Sie wählen ihn zum Kommissionsmitglied. In dieser Funktion wird der Matrose aus Neukölln zum wichtigen Ansprechpartner für Beschwerden aller Art der einfachen Seeleute. Hier lernte er auch seinen engsten Weggefährten kennen, den Heizer Albin Köbis – wie Reichpietsch ein Berliner aus einfachen Verhältnissen.

Eine abgesagte Filmvorführung löst die Rebellion aus

Doch nicht nur die Zustände an Bord der Kriegsschiffe, sondern auch das Elend der Zivilbevölkerung ließen Reichpietsch zum Kriegsgegner werden. Als er im Juni 1917 seine Eltern in Neukölln besuchte, begegnete er einer jungen, verzweifelten Kriegerwitwe, die ihm anbot, sich für ihn zu prostituieren, um ihre Kinder durchzubringen. Ein Weggefährte in der Matrosenbewegung erinnerte sich, dass dieses „aus tiefster Not geborene Angebot […] einen furchtbar schmerzlichen Eindruck“ auf Max Reichpietsch gemacht habe. In diesem Augenblick habe er „das Gelöbnis abgelegt, mit allen Kräften für den Frieden zu wirken.“

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Max Reichpietsch im Sommer 1917 auf Heimaturlaub in Neukölln (Foto: IISG Amsterdam)

 

Anfang August, wenige Wochen nach Reichpietschs Rückkehr nach Wilhelmshaven, überschlugen sich die Ereignisse. Der Anlass war banal: Die Offiziere hatten einmal mehr eine geplante Filmvorführung gestrichen und die Matrosen stattdessen zum Exerzieren geschickt. Drei Dutzend Seeleute machten lieber einen unerlaubten Landgang – bei ihrer Rückkehr wurden elf von ihnen herausgegriffen und unter Arrest gestellt. Aus Protest gegen die willkürliche Bestrafung verabredete sich die übrige Besatzung zu einer gemeinsamen Dienstverweigerung. Am nächsten Morgen verließen fast 600 Matrosen ihr Schiff und marschierten in ein nahegelegenes Dorf. Nach einer flammenden Rede Max Reichpietschs gegen den Krieg, beeilten sich die Matrosen jedoch, schnell auf ihr Schiff zurückzukehren, damit ihnen ihr Ausflug nicht als Meuterei ausgelegt werden konnte.

Zunächst sahen selbst einige Offiziere die Angelegenheit als „Dummerjungenstreich“. Als die Unruhen jedoch auf weitere Schiffe übersprangen, griff die Marineführung hart durch und ließ die führenden Köpfe der Matrosenbewegung verhaften. Ein Offizier ging davon aus, „daß wir der ganzen Bewegung noch Herr werden können, wenn wir eine Anzahl rücksichtslos an die Wand stellen.“ In stundenlangen Verhören wurden die inhaftierten Matrosen massiv unter Druck gesetzt. Einer der Angeklagten knickte ein und erzählte den Ermittlern, dass Max Reichpietsch während seines Heimaturlaubes Kontakt zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) aufgenommen hatte, einer linken Abspaltung der SPD, die gegen den Krieg agitierte. Das wurde Reichpietsch zum Verhängnis: Die Marineführung – unfähig, die Missstände in der Flotte als Ursachen für die Unruhen ernstzunehmen – hielt die Meuterei für eine von England finanzierte und von der USPD gesteuerte Aktion.

Die Militärs wollen ein Exempel statuieren

Der anschließende Schauprozess dauerte nur einen Tag und endete mit fünf Todesurteilen, wegen „vollendeter kriegsverräterischer Aufstandserregungen“ in der kaiserlichen Marine. Während drei der zum Tode Verurteilten begnadigt wurden, wollte der Flottenchef an Max Reichpietsch und seinem Mitstreiter Albin Köbis ein Exempel statuieren. Aus der Haft schrieb Reichpietsch an seine Eltern in Neukölln: „Ich habe keine Hoffnung mehr und habe mit dem Leben abgeschlossen.“ Weil die Marineführung weitere Meutereien fürchtete, wurde die Hinrichtung nach Köln verlegt, weit weg vom Ankerplatz der Hochseeflotte in Wilhelmshaven. Dem Exekutionskommando hatte man mitgeteilt, sie würden zwei englische Spione hinrichten, die geheime U-Boot-Pläne entwendet hätten – aus Angst, die Soldaten könnten die Erschießung zweier beliebter Kameraden verweigern. Die Hinrichtung verlief ohne Zwischenfälle.

Das Kalkül der Marineführung, durch ein abschreckendes Exempel die Disziplin an Bord der Schiffe wiederherzustellen ging indes nicht auf: Der nächste Matrosenaufstand im November 1918 führte zur Revolution und läutete den Anfang des Zusammenbruchs der Monarchie ein. Für den gerade 23-jährigen Max Reichpietsch war es da schon zu spät. Den Abschiedsbrief an seine Eltern in Neukölln schloss er mit den Worten: „Mir ist das Herz so schwer, daß es mir unmöglich ist noch weiter zu schreiben. Denn es ist traurig, als junger Mensch in der Blüte der Jahre, mit einem Herzen voll Hoffen und Sehnen, schon sterben zu müssen, sterben durch harten Richterspruch.“

Dieser Artikel ist in Kooperation mit Studierenden des Masterstudiengangs Public History an der FU Berlin, neukoellner.net und dem Museum Neukölln entstanden.