Zwischen Hörsaal und Fixerstube

Auf das Glück nach einem Schuss können Heroinabhängige nicht mehr verzichten. Foto: Julia Rathke

Auf das Glück nach einem Schuss können Heroinabhängige nicht mehr verzichten. Foto: Julia Rathke

Christiane Felscherinow, besser bekannt als Christiane F., ist eine der schillerndsten und gleichzeitig auch traurigsten Berühmtheiten, die Neukölln hervorgebracht hat. Anlässlich der Veröffentlichung ihrer aktuellen Autobiografie haben wir uns in der Drogenszene Neuköllns umgesehen.

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Dienstag, 12. Mai 2015

Wir treffen Laura*, 27 Jahre, Barfrau, Studentin und heroinabhängig. Wir haben uns für einen Dienstag Nachmittag in einem kleinen Café im Reuterkiez verabredet. Entgegen dem Klischee ist Laura pünktlich. Sie wirkt leicht gehetzt, als sie – begleitet von ihren zwei großen Mischlingshunden „Luna“ und „Mütze“ – am Interviewort eintrifft. Lange, hellbraune Haare umrahmen ihr Gesicht, und wirken wie ein Vorhang, der sie vor unerwünschten Blicken schützen soll. Dabei fällt sie gar nicht auf. Lauras Erscheinung entspricht nicht dem gängigen Bild, das der Durchschnittsbürger von einem „Junkie“ hat. Laura wirkt schmal, aber nicht ausgemergelt. Ihre Kleidung ist nicht verdreckt oder durchlöchert, im Gegenteil. Ihr Stil ist eine Mischung aus Neuköllner Hipster und Heroin Chic: Dunkle Erdtöne treffen auf Röhrenjeans und Leinen-Sneakers. Wer ihre Geschichte nicht kennt, der würde wohl niemals vermuten, dass Laura drogenabhängig ist.

„U8 is the best place for buying heroin in Berlin“

Die Bahnhöfe der U8 sind beliebte Umschlagplätze des braunen Pulvers. Foto: Gina Reimann

Die Bahnhöfe der U8 sind beliebte Umschlagplätze des braunen Pulvers. Foto: Gina Reimann

Wie Lauras Alltag aussieht, wollen wir wissen. Wie leben junge Drogenabhängige heute in Berlin Neukölln? Gibt es Anlaufstellen und Hilfsangebote? „Ja, die gibt es in der Tat,“ erklärt sie uns, „sogar viel mehr, als eine unbeteiligte Person vermuten würde“.  Berlin hat eines der besten sozialen Auffangnetze für Drogenkonsumenten in ganz Deutschland. Ein großer Anteil der Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und Therapiezentren liegt im Bezirk Neukölln. Das ist durchaus angebracht, da sich die sogenannte „offene Drogenszene“ seit ihrer Vertreibung vom berüchtigten Bahnhof Zoo in die Neuköllner U-Bahnhöfe und umliegenden Parks verteilt hat. Wobei der Fokus auf dem nördlichen Teil Neuköllns liegt. „U8 is the best place for buying heroin in Berlin“ lautete der Slogan einer Marketingkampagne des Start-ups „Amen“. Die U-Bahnlinie verkehrt zwischen Wedding und Neukölln. Die Hauptumschlagplätze für das braune Pulver liegen zwischen den Haltestellen Schönleinstraße und Hermannstraße. Der Kaufvorgang findet auf den Bahnhöfen und in den Zügen selbst statt. Das bestätigt uns auch Laura. Aber auch die zweite Neuköllner Linie, die U 7, stehe der Nachbarlinie wohl in nichts nach.

„Die Dealer und wir Konsumenten sind mittlerweile sehr eingespielt, wenn es um die Übergabe der Drogen und des Geldes geht. Man versteht sich ohne viele Worte. Zwischen Omi und Pendler findet das Ganze statt – und niemand scheint es zu bemerken. Naja, oder es will vermutlich niemand bemerken“, erzählt Laura.

„Rolltreppe abwärts“ – wie die Drachenjagd begann

Rolltreppe abwärts von der U8 zur U7 am Hermannplatz. Foto: Gina Reimann

Rolltreppe abwärts von der U8 zur U7 am Hermannplatz. Foto: Gina Reimann

Lauras Geschichte gleicht denen vieler anderer suchtkranken Menschen in der westlichen Welt. Und doch gibt es einen signifikanten Unterschied: Sie ist trotz ihrer Sucht ein aktives Mitglied der Gesellschaft. Laura arbeitet auf Steuerkarte und finanziert sich ihre Drogenabhängigkeit mittels eines Bar-Jobs und verschiedener Aushilfstätigkeiten, auf die sie nicht näher eingehen möchte. Das war allerdings mal anders. Als die 27-Jährige  „draufkam“ war sie gerade siebzehn Jahre alt und stand kurz vor ihrem Abitur. Aus blinder Liebe und Verbundenheit zu ihrem damaligen Freund, Sascha *, der zehn Jahre älter war als Laura, probierte sie aus, wie man den „Drachen jagt“. „Chasing the dragon“ nennt man die Prozedur des Heroinrauchens mittels Alufolie und eines Röhrchens.

„Es klang so harmlos“, erinnert sich Laura, „bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich Heroin immer mit fiesen Spritzen und Obdachlosigkeit in Verbindung gebracht. Dass man es auch rauchen kann, wusste ich nicht. Die Tatsache, dass Sascha es auf diese Weise konsumierte und ein scheinbar normales Leben führte, nahm der Droge ihren Schrecken“.

Eine ganze Weile finanzierte Lauras Freund die gemeinsame Sucht. Laura zog ihr Abitur durch und bestand es – mit sehr guten Noten. „Ich war während des Abiturjahres voll drauf,“ rekapituliert sie. Bis heute verstehe sie nicht, dass weder die Lehrer noch ihre Eltern etwas von ihrer Abhängigkeit bemerkten. Nach dem Abitur plätscherte das Leben für Laura und ihren Freund so dahin, bis zu jenem Tag, an dem Sascha nicht zum vereinbarten Treffen erschien. Zwei Tage verbrachte Laura in Ungewissheit, bis sie erfuhr, dass Sascha festgenommen wurde. Ganz so „normal“, wie von ihr vermutet, war sein Leben in Wahrheit nicht gewesen. Sie begriff, dass ihr Freund das Gefängnis so schnell nicht wieder verlassen würde.

Wer einmal auf "Drachenjagd" gegangen ist, kämpft oft sein Leben lang mit der Sucht. Foto: Gina Reimann

Wer einmal auf „Drachenjagd“ gegangen ist, kämpft oft sein Leben lang mit der Sucht. Foto: Gina Reimann

Prostitution und Therapie

Das war der Moment, an dem sich Laura eingestehen musste, dass sie ein Problem hatte. Ein ziemlich großes, sogar. Von nun an würde sie sich selbst um die Beschaffung und Finanzierung der Droge kümmern müssen. „Für mich gab es dabei nicht viel zu überlegen. Es ging mir noch lange nicht so schlecht, dass mir das Aufhören in den Sinn kam“, erinnert sie sich. Es folgte eine typische Drogenkarriere: Diebstahl in allen Varianten, Besitzveräußerung und Prostitution. In zwielichtigen Massage-Etablissments und Hinterhof-Bordellen lief Laura Gefahr, ihre Würde gänzlich zu verlieren.

„Ich konnte es einfach nicht. Mein Ekel war so unfassbar groß. Zuerst war es der Ekel vor den Männern. Dann kam jedoch der Ekel vor mir selbst hinzu. Da musste ich aufhören. Wenn man sich selbst nicht mehr erträgt, bleibt einem nicht mehr viel.“

Laura hing zu diesem Zeitpunkt an der Nadel und brauchte Heroin im Wert von achtzig bis hundert Euro pro Tag, um sich „normal“ zu fühlen. 2009 kam der Wendepunkt, als sie sich ihrer Familie anvertraute und um Hife bat. Es folgten intensive Gespräche mit ihren Eltern und Geschwistern. Ihre Mutter war es letztendlich, die Laura von der Notwendigkeit einer Therapie überzeugte. Trotz großer Ängste und Zweifel, stimmte Laura zu. Ohne ihre Mutter, sagt sie, wäre sie heute wohl nicht mehr am Leben. Die Therapie war damals ihre Rettung. Beinahe ein ganzes Jahr dauerte die aus verschiedenen Phasen bestehende therapeutische Maßnahme. Anschließend verließ Laura Neukölln – ja sogar Berlin, für eine Weile. Als sie vor zwei Jahren nach Berlin zurückkehrte, erlebte sie einen Rückfall.

Zombiegefühle auf Methadon 

Auf Anraten ihres Drogenberaters entschied sie sich für eine Substitutionsbehandlung mit dem schmerzstillenden Heroin-Ersatzstoff Methadon. In schwierigen Phasen griff sie immer wieder auf die Möglichkeit zurück, mit dem Opioid versorgt zu werden. Ihre tägliche Dosis erhielt sie in einer Neuköllner Arztpraxis – unter Aufsicht und strengem Reglement. So streng, dass es Laura nie lange durchhielt: „Man wird ständig kontrolliert, Urinkontrollen und Alkoholtests gehören zum Standard-Programm. An ein spontanes Verreisen ist nicht zu denken, da man täglich in der Praxis aufschlagen muss“. Außerdem sei ihr das Ersatzmedikament gar nicht gut bekommen. Wie ein Zombie fühlte sie sich unter dessen Einfluss. Ein Zustand, den sie nicht lange ertrug.

Nach unzähligen Versuchen ihr Leben in geordnete Bahnen zu lenken, gab sich Laura ihrer Sucht hin – und sich selbst ein stückweit auf. „Gegen das Heroin komme ich nicht an, noch nicht. Ich akzeptiere es als mein „Laster“, wenn man dies so nennen kann. Ich rede es mir schön,“ gibt sie zu. Nach der gefühlt zehnten Raucherpause versucht Laura ihre derzeitige Lebenssituation zusammenzufassen: „Ich habe mir den Traum vom Studieren erfüllt, ich habe eine nette Wohnung und muss nicht hungern. Doch jeder Cent, den ich verdiene – oder zumindest den größten Anteil, investiere ich in die Droge. Jeder Tag läuft gleich ab. Geld verdienen, Geld gegen Heroin tauschen und nebenher in der Uni sitzen. Ich möchte nicht kriminell werden müssen, dazu habe ich es zu weit geschafft. Es gibt für mich daher keinen freien Tag, kein Wochenende. Aber das ist okay. Ich lebe diesen Livestyle eben so lange, bis ich die Schnauze voll habe“. Laura scheint kurz nachdenklich. Die gesprochenen Worte liegen schwer in der Luft. Man möchte es ihr wünschen, dass sie ihren Weg geht. Wie auch immer dieser aussehen mag.

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Seit Christiane F. am Kurfürstendamm anschaffte, sind viele Jahre vergangen. Die Drogenszene hat sich gewandelt. Das Heroin ist so günstig und verfügbar wie nie zuvor. Ein Gramm kosten in Berlin derzeit um die 40 Euro. Doch auch die Hilfsangebote sind proportional zum Drogenangebot gestiegen. Therapieeinrichtungen wie das „F42“ in der Flughafenstraße oder Beratungsstellen wie das „DTZ“ (Drogentherapiezentrum) in der Boddinstraße oder „Vista“ (Verein für intergrative soziale und therapeutische Arbeit gGmbH) in der Lahnstraße bieten ein weites Spektrum an Beratung und Unterstützung bei Suchtproblemen jeder Art.

 *Namen von der Redaktion geändert / Dieser Text wurde zuerst am 5. Dezember 2013 veröffentlicht.