Er lege „Wert auf die Kontinuität der Politik Heinz Buschkowskys“, sagte Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) zu Beginn seiner Pressekonferenz, auf welcher er seine neuen Haushaltspläne erstmals der Öffentlichkeit präsentierte. Dabei sparte er nicht mit Lob an der Vorgängerregierung unter der Führung von Franziska Giffey, der er „sichtbare Erfolge“ attestierte. Ziel seiner Amtsperiode und somit auch für Neukölln sei es, die „Lebensqualität in allen Quartieren zu fördern.“ Nun stellt sich die Frage, ob die Lebensqualität in allen Teilen Neuköllns ähnlich hoch ist und ob das Papier die drängendsten Probleme, wie Bildung, die Verwahrlosung des öffentlichen Raumes, organisierte Kriminalität oder aber auch die weiter voranschreitende Gentrifizierung anzupacken vermag.
Bildung und Schule
Spätestens seit dem Brandbrief der Rütli-Belegschaft im Jahr 2006 ist die Situation an Neuköllner Schulen auch über die Bezirksgrenzen hinaus bekannt. Nimmt man die angekündigten Maßnahmen und die geografische Lage der insgesamt 53 Schulen, an denen gebaut oder saniert werden soll, genauer unter die Lupe, sticht eines ins Auge: Die südlichen Bezirke werden deutlich mehr von den Instandhaltungsmaßnahmen haben. Während hier einige Schulen neu gebaut werden, wird im Norden oft nur das Nötigste getan. Hierzu zählen etwa die Sanierung von Toiletten sowie elementare, die Sicherheit betreffende Maßnahmen wie Brandschutzkonzepte. Das Prinzip der Vorgängerin Franziska Giffey, welche sich eher für den Aus- und Neubau von Oberschulen im Süden eingesetzt hatte, wird somit nicht wirklich angetastet.
Zwar sollen die Schwerpunkte der baulichen Maßnahmen an den Schulen die Bereiche energetische Sanierung sowie Barrierefreiheit umfassen, jedoch ist das in vielerlei Hinsicht falsch gedacht. Erstens wird das den Umstand, dass die Nord-Neuköllner Schülerinnen und Schüler deutlich schlechtere Schulabschlüsse haben, nicht ändern. Zweitens wird hierbei die weiter voranschreitende Digitalisierung des Arbeitsmarktes und somit die Vorbereitung auf diesen nicht bedacht. Und drittens sind es eben nicht Oberschulen, die gefördert werden sollten, sondern Schulen, die per se schon schlechte Bildungsabschlüsse vorzuweisen haben.
„Bring your own device“
Möglicherweise hat man sich in Neukölln gedacht, es sei eine gute Idee, mit der Digitalisierung der Schulen auf den von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag beschlossenen Digitalpakt zu warten, welcher Kinder auf die neuen digitalen Arbeitsmärkte vorbereiten soll. Allerdings sieht dieser keine Finanzierung von technischen Endgeräten für Schulen vor, sondern soll im Grunde dafür sorgen, dass es an deutschen Schulen schnelles Internet in Form von Breitbandanschlüssen gibt.
Vielmehr geht die Bundesregierung davon aus, dass alle Kinder über Endgeräte wie Smartphones oder Tablets verfügen und diese dann selbst mit in die Schule bringen können. Das ist in einem Bezirk mit einer derart hohen Quote an Hartz IV-Empfängern (in Nord-Neukölln sind es 27 Prozent) schlichtweg nicht möglich. Hier hätte die Bezirksregierung Vorreiter sein können, indem sie überschüssiges Geld für die Digitalisierung aller Neuköllner Schulen in die Hand nimmt.
Neue Kitas und Schulplätze
Positiv hervorzuheben ist allerdings die Tatsache, dass der Bezirk das Budget für die Instandhaltung der Schulen im Vergleich zum Vorjahr um elf Millionen Euro (48 Millionen) erhöht hat. Ferner sollen an vier Standorten in Britz, Buckow und Rudow neue Kitas mit insgesamt 410 Plätzen geschaffen werden. Das Bezirksamt führe derzeit ein Träger-Interessensbekundungsverfahren durch. Ein Schelm, wer hierbei ebenfalls an eine Bevorteilung der südlichen Bezirke denkt. Natürlich konnte die Bezirksregierung nicht ahnen, dass der berlinweite Kita-Gutschein aktuell auf der Kippe steht. Dieser ermöglicht es, Kinder auch in bezirksübergreifenden Kindertagesstätten anzumelden.
Für das kommende Schuljahr sieht die Bezirksregierung ebenfalls 2250 Schulplätze für Erstklässler sowie 1951 Schulplätze für weiterführende Klassen vor.
Verwahrlosung des öffentlichen Raumes, Drogen und Kriminalität
Für den Bezirksstadtrat Falko Liecke (CDU, Jugend und Gesundheit) ist „eines der drängensten Probleme die Verwahrlosung des öffentlichen Raumes.“ Damit zielt er vor allem auf die „offene Drogenszene an vielen Bahnhöfen an.“ Aber auch der Müll sowie die zunehmende Obdachlosigkeit seien ein Problem. Zumindest im Kampf gegen den offenen Drogenkonsum scheint sich etwas zu tun: Künftig sollen weitere „Beratungs- und Konsummobile“ an fünf Tagen pro Woche zugänglich sein und es den Süchtigen ermöglichen, in einem geschützten Raum zu konsumieren – am Liebsten wäre es dem Bezirksamt, wenn dies sogar an sieben Tagen pro Woche geschehen könnte.
Aktuell bieten zwei Mobile an drei Tagen pro Woche ihre Dienste an; in einem kann konsumiert werden, in dem anderen finden Präventionsgespräche statt. Längerfristig ist der Einsatz eines weiteren Mobils geplant, dessen Aufgabe die ärztliche Versorgung der Suchtkranken sein soll. Drogenkonsumenten sollten „aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden“, so Liecke.
SoKo „Opium“
Außerdem fordert die Bezirksregierung zusätzliche Straßensozialarbeit und die Einrichtung einer SoKo „Opium“, um „der organisierten Kriminalität und den Handelsstrukturen Einhalt zu gebieten.“ Jedoch liegt die Zuständigkeit für solche Maßnahmen beim Senat. Zwar soll eine Koordinierungsstelle für Sicherheit und Ordnung geschaffen werden, welche direkt im Büro des Bürgermeisters angesiedelt sein soll – ein Datum gibt es hierfür allerdings noch nicht. Eine klare, sofort wirksame Strategie des Bezirkes, auch in Bezug auf kriminelle Familienclans, ist damit schlichtweg nicht vorhanden.
Von „Müll-Scheriffs“ zu „Waste Watchern“
Um der Vermüllung Neuköllns entgegenzuwirken, sollen künftig sogenannte „Waste Watcher“ die Aufgaben der „Müll-Scheriffs“ übernehmen. Die Frage, ob die von Bezirksbürgermeister Hikels Vorgängerin Franziska Giffey eingeführte Initiative kostendeckend war, lässt sich summa summarum verneinen, wie aus einer Anfrage der Links-Fraktion in der BVV hervorgeht; der Einsatz der „Müll-Schriffs“ kostet deutlich mehr, als diese einnehmen. Bis die „Waste Watcher“, welche künftig aus Mitarbeitern des Bezirksamtes bestehen sollen, eingestellt werden können, kosten die „Müll-Scheriffs“ also weiterhin Geld. Die rechtlichen Voraussetzungen für die „Waste Watcher“ müssten allerdings vorerst vom Senat geschaffen werden, heißt es dazu im Papier.
Gentrifizierung und Verdrängung der Bevölkerung
Neukölln hat nicht erst seit gestern ein Problem mit steigenden Mieten durch Luxussanierungen und der daraus resultierenden Verdrängung alteingesessener Bürgerinnen und Bürger. Nun ist das zwar nicht unbedingt die Schuld der Bezirksregierung, dass es kaum mehr Immobilien in öffentlicher Hand gibt; war es doch Ex-Oberbürgermeister Wowereit (SPD), der große Teile an Privatinvestoren verkauft hatte, um die Landeskasse zu sanieren. Innerhalb des S-Bahn-Rings befinden sich gerade einmal noch 15% der Immobilien in Besitz der Stadt. Dass diese nicht für bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stehen, sollte bei der äußerst großen Nachfrage einleuchten. Dennoch dürfte die Bezirksregierung nicht ganz unschuldig daran sein, dass der Bezirk „immer mehr zum Spekulationsobjekt für Investoren“ wird, so die Kritiker aus den Reihen der Neuköllner Linken.
Mieterberatung und Millieuschutz-Beirat
Also was genau wird nun seitens der Bezirksregierung unternommen, um dem Einhalt zu gebieten? Was aus Initiativen so mancher linker Gruppierung, wie etwa dem ehemaligen Kiezladen Friedel 54, bereits bekannt ist, wird nun von der Bezirksregierung ebenfalls eingeführt. Aus Bezirkshaushalt und Mitteln der Senatsverwaltung sollen insgesamt 170.000 Euro für die kostenlose Beratung von Mieterinnen und Mietern zur Verfügung gestellt werden, auch wenn diese nicht in einem der sieben Millieuschutzgebiete Neuköllns wohnen.
In vielen Bereichen wenig Einfluss
Man hätte als Bezirk „in vielen Bereichen relativ wenig Einflussbereich“, monierte Bezirksstadtrat Jochen Biedermann (B’90/Grüne). Im gleichen Atemzug versicherte er aber, dass er das Vorverkaufsrecht – welches es dem Bezirk erlaubt, Immobilien zu günstigen Preisen zu kaufen und somit die Mietkosten nicht explodieren zu lassen – mit „persönlichem Engagement fortführen“ werde. Dies ist seit der Einführung des Vorverkaufsrechts bisher vier mal passiert. Bei einem fünften Versuch wurden Fristen verpasst, es kam also nicht zur Anwendung dieses Rechts.
Daher will das Bezirksamt nun auch auf Präventionsstrategien setzen, um den Verlust von Wohnungen, beispielsweise durch Mietversäumnisse, einzudämmen. Hier gäbe es „eine ganze Reihe von Möglichkeiten zu helfen, beispielsweise durch die Übernahme der Miete“, so Biedermann. Ferner werde in Zukunft mit Discountern, wie etwa Aldi oder Lidl, über nutzbare Wohnflächen geredet. Aldi selbst hatte jüngst mit einer solchen Ankündigung für Furore gesorgt.
Bezahlbarer Wohnraum
Die Quote für bezahlbaren Wohnraum bei Neubauten, welche unter Hikels Vorgängerin Giffey abgenommen hatte, soll nun wieder angehoben werden. Hierbei würden Vorhaben, die „nach dem Berliner Modell der kooperierenden Baulandentwicklung einen Anteil von 25% an bezahlbarem Wohnraum vorsehen“ Priorität erhalten. Ab August diesen Jahres soll dieser Anteil auf 30% ansteigen.
Nun klingt das alles erstmal gar nicht schlecht. Wären da nicht aktuelle Probleme, für die wohl jede Hilfe zu spät kommt – wie etwa das Haus in der Karl-Marx-Straße 179, welchem über den Winter das Gas und das Wasser abgestellt worden waren, weil Leitungen beschädigt wurden. Die Schuld dafür bekamen die Handwerker, es sei ein Unfall gewesen. Aber eigentlich klingt das doch sehr nach altbekannten Entmietungsstrategien.
Ob Biedermann, dessen Engagement für bezahlbaren Wohnraum nicht abzustreiten ist, am Veto der CDU-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung scheitern wird, kann niemand so genau sagen. Gerüchten zu Folge sprechen diese sich für den Abriss des Gebäudes aus. Entstehen sollen dort 40 Eigentumswohnungen. Auf Nachfrage von neukoellner.net wollte sich niemand dazu äußern.
In eigener Sache:
Aus Platzgründen konnten wir nicht auf sämtliche Punkte im Haushaltsplan eingehen. Sollte jemand von euch sich die Frage stellen, um was es sich in den restlichen Punkten im Papier handelt, so zögert nicht, uns diesbezüglich zu fragen.
Kommentare:
Aufgrund Ihres Artikels habe ich beim BA in der BVV nachgefragt:
Ist dem Bezirksamt bekannt, dass die von der Bundesregierung beabsichtigte Digitalisierung der Schulen die Endgeräte nicht umfasst?
Beabsichtigt das Bezirksamt Kindern aus Hartz IV- Familien Endgeräte wie Smartphones und Tablets zur Verfügung zu stellen?
De Antwort ist noch nicht veröffentlicht. Sie werden sie in den nächsten Tagen hier finden:
https://www.berlin.de/ba-neukoelln/politik-und-verwaltung/bezirksverordnetenversammlung/online/vo020.asp?VOLFDNR=5964
VG A, Lüdecke
Eine vielleicht nicht repräsentative Beobachtung aus einer Schulklasse mit 95% Lernmittel Befreiung: Fast jeder hat ein 500€+ teures Smartphone. Die einzigen, die es nicht haben, sind die Kartoffel-Akademikerkinder. Jetzt kann man lang über Prioritäten reden.