Text und Foto: Marco Vullo
Heute war der letzte Sonntag für Sylvias Laden. Aber auch für ihre Idee, wofür er steht. Beim Reingehen empfängt mich diesmal ein weniger gut gelauntes „Guten Morgen“. Sogleich folgt dennoch ein Witz in breitem Berliner Dialekt. An der Theke erwarten mich die warmen, buttrigen Croissants, kleine Pyramiden von Schrippen und – wieder anders als sonst – nur eine schüchterne Reihe Kartoffelbrötchen. „Es tut mir leid, junger Mann, das ist alles was wir noch übrig haben“, sagt sie. „Schon so hungrig gewesen heute, die Kunden?“, frage ich. „Nö, heute ist der letzte Sonntag.“
Gleich nach mir kommt eine alte Frau mit ihrem Hund, der sofort in eine Ecke des Ladens wackelt. Da gibt es einen Fressnapf für alle Kunden auf vier Beinen. Die Frau, die noch nicht bestellt hat, empfängt automatisch ihre Fernsehzeitung, einen Kaffee „immer schwarz wie die Nacht“ und ein Brötchen mit Ei. Jetzt kann sie sich mit den anderen drei Stammkunden, zwei alten Frauen aus der Nachbarschaft und einem noch älteren Hausmeister aus dem Kiez, an den Tisch in der Mitte des winzigen Raumes setzen.
Beim Angebot saisonabhängig und kundenorientiert
Dann fangen sie an, zu plaudern. Wie die Nacht gewesen ist, was gestern im Fernsehen gelaufen ist: „Haste gehört, wat Karola passiert ist?“, sagt die eine. „Lies mal hier, dat iss unglooblisch“, sagt die andere. Dazwischen lange Pausen, um die Zähne zurechtzurücken. Doch eigentlich wissen die Alten, dass ihre Zeit – so wie die für Sylvias Laden – bald vorüber sein wird. Alles ändert sich.
Ihre Zuhörer sind die Waren, ordentlich angeordnet auf den Regalen, die sich bis hoch an die Decke stapeln. Es gibt alles für den Haushalt, für den kleinen und den großen Hunger. In einer versteckten Ecke gibt es sogar Windeln, für die Jungen und auch für die Alten. Das Angebot ist überwältigend und tatsächlich saisonabhängig und kundenorientiert. Vor Weihnachten gibt es Weihnachtsmänner aufs Haus, kurz vor Ostern werden Schokoladen-Eier verteilt.
Bauarbeiter, Eltern, Kinder und Rollatoren
Der Betrieb fängt unter der Woche früh an. Gegen sechs Uhr kann man schon die Lichter brennen sehen. Kaffee wird für die Bauarbeiter gebrüht. Gegen sieben kommen die Stammkunden aus der Nachbarschaft für ein Frühstück und für ein Schwätzchen. Gegen acht die Eltern, die es nicht geschafft haben, für ihre Kinder ein Pausenbrot zu schmieren. Und dann folgt ein langsames, fröhliches Kommen und Gehen von Rollatoren, aber auch von Vollbartträgern.
Mittwochmittags streiten sich die Kunden um die letzte Boulette – die beste der Stadt. Nach der Schule kommen die Kinder, im Winter für eine Instantsuppe, im Sommer für eine Ladung Lutscheis. Was auch für ein Wetter herrscht, man sollte den Laden zwischen halb zwei und halb drei immer meiden. Es sei denn, man möchte erforschen, nach welchem Prinzip sich die Kinder entscheiden, für zwei Euro saure Bonbons zu kaufen. Es gibt lange Verhandlungen für eine Bananensonne oder für einen Himbeermond und eine verzweifelte Suche nach übrigem Taschengeld in den chaotischen Ranzen. Kurz vor Ladenschluss, gegen fünf, gibt es dann Kaffee und Kuchen.
Dem Umsatzeinbruch folgt der schwedische Investor
Seit Anfang des Jahres hat Sylvia die Preise der Bonbons erhöht. Die kosten jetzt nicht mehr fünf, sondern zehn Cent. Sie passt sich an, dachte man, wie vor ein paar Jahren, als der Körnerkiez angefangen hatte, sich zu verändern. Bioprodukte erschienen im Sortiment. Sie war im Kiez lange Zeit die einzige, die umweltfreundliche Zigarettenfilter im Angebot hatte. Seit etwa einem Jahr ist der Laden auch eine Filiale eines Paketdienstes geworden. Trotzdem ist heute der letzte Sonntag.
Da war der Umsatzeinbruch seit den letzten großen Ferien. Viele alte Stammkunden mussten umziehen, entweder dorthin, wo die Miete billig ist, oder ins Pflegeheim oder auf den Friedhof. Und weil die jüngeren Kunden lieber woanders hingehen oder stundenlang nach dem besten Angebot online suchen, wurde es schwierig für Sylvia. Als finaler Stoß kam der fein angezogene Entsandte eines schwedischen Immobilien-Investors.
Heute macht Sylvia zu
In einem Jahr wird das Haus saniert, „nötige“ Modernisierungen sollen durchgeführt werden. Es wurde bereits eine sehr teure Gegensprechanlage eingebaut, obwohl die alte noch funktionierte. Es werden Mieterhöhungen kommen. Und irgendwann ist überhaupt kein Platz mehr für so einen altmodischen Laden.
Wenn Sylvia heute zumacht, wird es im Kiez nicht nur einen voll ausgestatteten Laden weniger geben. Der Treffpunkt wird fehlen, für verschiedene Generationen und soziale Milieus, ein Vermittlungspunkt für kleinere Aufträge verschwindet, dazu ein Arbeitgeber, ein Pflege- und Kochdienst, zu guter Letzt ein zeitgeschichtliches Archiv.
So stirbt langsam und einsam ein weiteres Stück des alten Neuköllns.
Wer am heutigen Mittwoch noch einmal in Sylvias Laden gehen möchte, er liegt in der Jonasstraße 21.