„Man bekommt unglaublich viel von den Kindern“

Der Bedarf an Pflegeeltern ist in Berlin nur zur Hälfte gedeckt. (Foto: Pflegekinder im Kiez gGmbH)

In Berlin werden Pflegeeltern dringend gesucht. Es gibt nur halb so viele Krisenpflegemütter oder -väter, wie eigentlich gebraucht werden. Nicht jeder ist bereit, sich um ein fremdes Kind, wie um sein eigenes zu kümmern und dann möglicherweise nach ein paar Wochen wieder abzugeben. Doch einige Menschen stellen sich dieser Herausforderung – wie die Krisenmutter Silvia Schlüter.

Kisenpflegefamilien springen übergangsweise ein, wenn eine Familienkrise so akut wird, dass ein Kind oder Jugendlicher schnell einen sicheren Ort zum Leben braucht. Sie sind gut vorbereitet und bieten stabile und übersichtliche Strukturen und eine verlässliche Begleitung. In dieser Zeit klärt das Jugendamt, wie es für das Kind weitergeht. Bis zu dieser Entscheidung lebt das Kind in der Pflegestelle.

Wer sich vorstellen kann, selbst für diese Aufgabe zur Verfügung zu stehen: Krisenpflegemutter oder -vater kann man unabhängig von Alter, Familienstand oder Ausbildung werden. Gesucht werden Menschen, die belastbar, geduldig, flexibel und erziehungserfahren sind, die Grenzen setzen und Grenzen respektieren können. Die Hauptbetreuungsperson sollte nicht berufstätig sein, denn es muss genügend Zeit für die Kinder vorhanden sein. Die Tätigkeit als Krisenpflegeeltern wird finanziell vergütet.

Die Neuköllnerin Silvia Schlüter ist eine Krisenmutter. Als sie 2009 durch eine Werbung auf PiK (Pflegekinder im Kiez) stieß, wollte sie sich engagieren. Die 51-Jährige bewarb sich und arbeitet seitdem als Krisenmutter. (mehr …)

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Freitag, 20. April 2018

Interview: PiK – Pflegekinder im Kiez

PiK: Frau Schlüter, was ist eine Krisenmutter?
Silvia Schlüter: Das ist eine geprüfte und geeignete Person, die ein Kind vom Pflegekinderdienst zugewiesen bekommt und es Zuhause für mehrere Tage, Wochen oder Monate begleitet. Es handelt sich in der Regel um Säuglinge und Kleinstkinder von 0 bis unter 6 Jahren. In dieser Zeit wird geklärt, wie es für das Kind weitergeht. Bis dahin lebt das Kind in der Pflegestelle. Im Durchschnitt habe ich die Kinder drei Monate bei mir gehabt.

Manchmal war ich gerade unterwegs und bekam dann einen Anruf von PiK, dem Pflegekinderdienst. Sie sagten zum Beispiel: „Wir haben ein Mädchen, neun Monate alt und bringen es morgen Nachmittag zu dir.“ Dann hältst du ein kleines Kind in den Händen, im Strampelanzug. Bald darauf findet die erste Besprechung mit PiK statt, um abzuklären, wie es weitergeht.

„Es kann nur funktionieren, wenn die gesamte Familie mitspielt“

Was sind die Voraussetzungen, um Krisenmutter zu werden?
Ich habe an einer Pflegeelternschulung teilgenommen. Zusätzlich habe ich den „Aufbaukurs für Krisenpflege“ besucht. Dazu kam noch ein Erste-Hilfe-Kurs für Säuglinge und kleine Kinder und man muss ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Meine Wohnung wurde begutachtet. Meine gesamte Familie wurde befragt, denn es ist ja wichtig, dass alle Familienmitglieder einverstanden sind. Außerdem musste ich einen Fragebogen ausfüllen.

Sie versuchen herauszufinden, ob man die Nerven und die Bereitschaft für diesen Beruf hat. Man besucht auch Seminare und lernt dadurch, was auf einen zukommt. Man muss nachweisen, dass man finanziell für sich sorgen kann. Viele Krisenmütter brauchen aber finanzielle Rückendeckung vom Partner und es kann nur funktionieren, wenn die gesamte Familie mitspielt. Viele sind auch Rentner, da es ein Vollzeitjob ist, obwohl man nur eine Pauschale zum Lebensunterhalt und weitere Pauschalen und Beihilfen bekommt.

„Man öffnet für jedes Kind sein Herz“

Was ist das Schwierigste am Krisenmuttersein?
Es war mir bewusst, dass ich die Kinder wieder loslassen muss und ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie ich damit umgehe. Man öffnet für jedes Kind sein Herz. Natürlich gibt es Kinder, bei denen der Funken weniger überspringt. Es gab ein einziges Mal ein Kind, bei dem ich froh war, dass ich es abgeben konnte. Das einjährige Kind war eine Woche bei mir, es hat durchgehend geschrien und ich wusste nicht, wieso.

Wie war es für Ihre leiblichen Kinder, wenn alle paar Wochen ein neues Kind da war?
Ich habe das im Vorfeld mit meinen zwei Kindern besprochen, sie waren damals beide im Grundschulalter. Zwischen den einzelnen Kindern habe ich immer zwei bis drei Monate Pause gemacht, so dass meine eigenen mich auch eine Zeit lang ganz für sich hatten. Meine Kinder haben letztendlich profitiert. Sie haben gelernt, dass es nicht selbstverständlich ist, dass jeder Eltern und ein behütetes Zuhause hat. Sie haben begriffen, dass es Menschen gibt, die unsere Hilfe brauchen und dafür nichts können.

Überforderte Eltern, vernachlässigte Kinder

Welche Schicksale haben die Kinder, die zu Krisenmüttern kommen?
Von einer überforderten 15jährigen Mutter bis hin zu schwer vernachlässigten Kindern. Das Jugendamt erhält dann oft eine Gefahrenmeldung von Dritten und das Kind muss sofort zu einer Krisenmutter gebracht werden. Die Hälfte der Kinder kommt später zurück zu den leiblichen Eltern oder zu Verwandten, die andere Hälfte kommt in reguläre Pflegefamilien.

Was macht glücklich an Ihrem Beruf?
Man bekommt unglaublich viel von den Kindern. Ich hatte einmal ein eineinhalbjähriges Mädchen für sieben Monate bei mir. Als sie mir gebracht wurde, war sie körperlich verwahrlost und lag in ihrer Entwicklung zurück. Sie konnte nicht sicher stehen, geschweige denn gehen. Doch sie fasste zu mir Vertrauen und blühte auf. Es ist beeindruckend mitzuerleben, wie regenerationsfähig eine Kinderseele ist. Für mich ist es jedes Mal aufs Neue ein Wunder, wenn ich sehe, wie lebenshungrig und kämpferisch Kinder sind. Alle Kinder, die ich abgegeben habe, hatten dann schließlich den für ihr Alter angemessenen Entwicklungsstand erreicht – das war immer ein wunderschönes Gefühl. Ich habe immer gewusst, was und warum ich es tue. Ich habe es gemacht, weil ich helfen wollte, nicht um Lob zu ernten.

Pflegekinder im Kiez gGmbH sucht dringend Pflegeeltern! In Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln vermittelt PiK (Pflegekinder im Kiez gGmbH) Pflegekinder und Pat*innen im Auftrag des Jugendamtes. Viielleicht woll ihr euch grundsätzlich über diesen Aufgabenbereich informieren oder kennt schon Menschen, die Pflegeeltern sind und möchtet diese Möglichkeit für euch prüfen. Oder ihr habt euch schon lange mit dem Gedanken beschäftigt, ein Pflegekind aufzunehmen und möchtet jetzt einen Schritt weiter gehen? Hier könnt ihr Kontakt aufnehmen: PiK – Pflegekinder im Kiez gGmbH, Dieffenbachstraße 56, 10967 Berlin, Telefon 030 6122735.

Für Interessierte aus Neukölln: Der nächste allgemeine Infoabend findet statt am Mittwoch, 9. Mai von 18 – 20 Uhr in der Lenaustr. 7, 12047 Berlin. Die weiteren Infoabende sind in der Regel an jedem zweiten Mittwoch im Monat.