Jetzt, wo die Outdoorsaison wieder eröffnet ist, rollen sie in Rudeln durch den Kiez und man fragt sich, wo die ganzen Jungeltern samt Kindern herkommen. Nach dem Winter scheint der Spielplatz am Weichselplatz so stark frequentiert zu werden, wie noch nie. Auf dem Stück der Weichselstraße, zwischen Pflügerstraße und Maybachufer gibt es fast gar kein Vorbeikommen mehr. Wie beim Staffellauf geben sich auf diesem Abschnitt Kinderladen, Eisladen, das rudimarie und der Skateplatz den Stab in die Hand. Der Bürgersteig ist in der Hand von Horden von eisschleckenden Kleinkindern und den dazugehörigen Eltern, samt kinderhabender Freunde und abgestellten Kinderwagen.
Es kreischt und schreit. Bei der Nachbarin aus dem Vorderhaus, ist nicht mehr nachzuvollziehen, ob sie gerade eben ein neues Kind bekommen hat oder wieder schwanger ist. Nachts müssen erst einmal Bobby-Cars und Kinderfahrräder aus dem Weg des Hinterhofs gekickt werden, damit man überhaupt durch kann. Kinder kriegen und Kinder haben ist im Reuterkiez im Trend. Vielleicht hat der Edeka in der Pannierstraße deshalb neue Regale einbauen lassen und die Gänge verbreitert.
Wo einst Jugendgangs durch die Straßen stromerten, haben Schwangere und Jungeltern das Regiment übernommen.
Hin und wieder arbeite ich bei Festen im Schloss Charlottenburg und schminke Kinder oder bastele mit ihnen. Im März rotzte mir ein Kind, während ich es schminkte, volle Kanne ins Gesicht. Die Mutter, die daneben stand, kam noch nicht mal auf die Idee sich zu entschuldigen. Dafür beschwerte sie sich fünf Minuten später, dass ihre Tochter beim Basteln anstehen müsste. Ein paar Tage später fand ein ähnliches Szenario bei Edeka statt, als ein Kind in meinen Einkaufskorb nieste und die Mutter wie selbstverständlich an mir vorbei zog.
Es sind nicht die Kinder, die alles im Hof liegen lassen oder das Bobby-Car direkt vor der Tür parken, die rumrotzen und in Fremde Gesichter niesen, es sind die Eltern, die das Problem darstellen. Sie führen sich manchmal auf, als hätten sie durch den Akt der Vermehrung, eine Sonderstellung im gesellschaftlichen Miteinander errungen, als wären sie zur Ignoranz legitimiert.
Das öffentliche Agieren scheint dem Markieren ihres Reviers gleichzukommen. Hundebesitzer lassen ihre Hunde überall hinkacken, Eltern parken mitten auf dem Gehweg die Kinderwägen. „Lasst ihr mich mal, darf ich mal bitte durch“ statt „Charlotte, lass mal bitte die Dame vorbei“. Auch sie selbst nehmen die Gehwege ein und treten nicht zur Seite, um andere vorbei zu lassen.
Wer rauchend die Weichselstraße entlang geht, trifft auf Blicke, die zu töten versuchen.
Ich halte mich für einen netten Menschen. Ich räume seit Jahren im Hof ohne zu murren das Spielzeug aus dem Weg, ich laviere mich und mein Fahrrad schiebend an Kinderwägen und Eltern vorbei und achte darauf, dass kein Kind in der Nähe, meinen Rauch abbekommt. Doch beim Rotzen ist Schluss. Ein bisschen mehr Umsichtigkeit wäre schön.
Letztens sprach eine Mutter ihrem eineinhalbjährigen, frierenden Kind die Kompetenz zu, selbst zu wissen, welche Kleidung angemessen ist. „Da bist du selbst schuld, dass du jetzt frierst“, sagte sie zu ihm. Das kann doch nicht die richtige Methode sein, das Kind frieren zu lassen, anstatt noch eine Jacke einzupacken. Muss man Eltern erst erklären, dass ihre Kinder, Kinder sind?
Dass sie die Verantwortung dafür tragen, dass niemand über liegen gelassenes Spielzeug fällt? Dass man Kindern beibringen muss, ihren Kram an die Seite zu packen oder Leute vorbei zu lassen. In 20 oder 30 Jahren werden genau diese Eltern, sich über die Ignoranz der Jungen ärgern und nicht sehen, dass sie vielleicht ein Resultat des Vorgelebten ist.
Liebe Eltern, ihr sollt ja mit euren Kindern Eis essen und sie auf den Gehwegen spielen lassen, aber bitte gestaltet es doch so, dass es für alle anderen kein Spießrutenlauf ist.
Artikel erschienen am 23.04.2011 im tazblog M29 von unserer Autorin Elisabeth Wirth.