„Die Herkunft ist doch völlig egal“

Franziska Giffey Bürgermeisterin NeuköllnIm zweiten Teil des Interviews erläutert Franziska Giffey ihre Sicht auf die Bildungsproblematik in Nord-Neukölln, die Gründe für den Image-Wandel der Rütli-Schule – abseits der Baumaßnahmen – und warum „Migrationshintergrund“ ein Stigma und kein Problemindikator ist.

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Dienstag, 30. Juni 2015

Im ersten Teil des Interviews spricht Franziska Giffey über Coffee-Shops in der Hasenheide, Pflichten und Grenzen auf beiden Seiten der Integration und die Machtlosigkeit im Kampf gegen die Ausbeutung von bulgarischen und rumänischen Migranten.

Interview: Marion Schulz, Max Büch

neukoellner.net: Frau Giffey, Sie sind seit dem 15. April 2015 Bürgermeisterin von Neukölln. Können Sie sich noch erinnern, wie Ihr erster Eindruck von Neukölln war?
In Neukölln war meine erste eigene Wohnung, als ich nach dem Abitur 1998 nach Berlin gekommen bin. Da war das hier wirklich noch eine andere Situation.

Inwiefern?
Das war eine Zeit, in der wir noch das größte Sozialamt Deutschlands hatten. Das war vor den Hartz-IV-Reformen und damals waren bei einer Bevölkerung von 300.000 Menschen fast 100.000 Kunden im Sozialamt. Ich weiß noch genau, als ich zum ersten Mal wirklich realisiert habe, was für Bedingungen hier eigentlich herrschen: ein Drittel der Bevölkerung im Sozialamt. Das hat man auch ganz deutlich im Straßenbild gesehen – allein beim Ladenleerstand im Reuterkiez, in der Weserstraße. Das, was sich hier in den letzten Jahren tut, zeigt aus meiner Sicht schon einen Wandel. Den gab es in den 90er Jahren noch nicht so.

Seit wann macht sich der Wandel aus Ihrer Sicht bemerkbar?
Das hängt vom Blickwinkel ab. Man kann ja ganz dicht nebeneinander unterschiedliche Entwicklungen beobachten. Im Hinblick auf die Schulen sind in Nord-Neukölln nach wie vor fast alle Kinder im Hartz-IV-Bezug und ein großer Teil der Kinder kommt aus Familien, in denen Deutsch nicht als Muttersprache gesprochen wird und in denen oftmals die Förderung der Kinder zu Hause nicht ausreichend ist. Das ist nach wie vor unverändert.

Dabei wurde doch vergangenes Jahr das „Abi aus Neukölln„, also der Image-Wandel der Rütli-Schule, überregional in den Medien als großer Bildungserfolg gefeiert.
Es gibt einige gegenläufige Entwicklungen, dass bildungsorientierte Eltern sich entscheiden, nicht aus dem Bezirk wegzugehen. Wegen des Campus Rütli beispielsweise oder wenn es andere Angebote gibt wie bei der kunstbetonten deutsch-französischen Regenbogen-Schule im Rollbergviertel. Die liegt mitten im Brennpunkt, wird aber gut nachgefragt. Dann haben wir jetzt erste Elterninitiativen, die ihr Kind auf die Kiez-Schule vor Ort schicken, nicht weggehen wollen und sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen. Sie sorgen dafür, dass eine Gruppe von bildungsnahen Eltern sich gemeinsam entschließt, dort hinzugehen.

Das klingt ziemlich elitär. Ist diese Trennung nicht höchst problematisch?
Wir haben ja keine reinen Klassen, in denen wir Kinder von bildungsorientierten Eltern zusammenstecken – so viele haben wir überhaupt nicht. Wir haben ja auch große Diskussionen in der Stadt gehabt über die Deutsch-Garantie-Klassen, die es in Mitte gibt. Das wurde sehr stark kritisiert. Trotzdem war es an vielen Stellen der einzige Weg, diese Kinder überhaupt an den Schulen zu halten. Hätte man es nicht gemacht, wären die Eltern gegangen. Im Gegensatz dazu ist es problematisch, wenn bei einer ganzen Klasse nicht ein einziger Elternteil Arbeit hat und es ist auch problematisch, wenn zu Hause in kaum einer Familie deutsch gesprochen wird.

Wie äußern sich diese Probleme im Alltag der Kinder?
In ganz vielen Familien sind die Kinder die einzigen, die früh aufstehen. Es achtet keiner darauf, ob das Frühstücksbrot dabei ist, ob die Zähne geputzt sind oder ob man warm genug angezogen ist. Wir haben unheimlich viele Kinder, die hungrig in die Schule kommen. Dieses nicht-geregelte Leben in ganz vielen Elternhäusern, wo arbeiten gehen gar nicht zum Lebensinhalt gehört, ist schwierig für die Entwicklung der Kinder. Und das betrifft deutsche Kinder genauso wie Kinder mit Migrationshintergrund.

Das wird in der medialen Berichterstattung über Neukölln meist anders dargestellt: als Problem von „Kindern mit Migrationshintergrund“.
Die Herkunft ist doch eigentlich völlig egal. Wir haben in den Schulen die Problemindikatoren NDH und LMB. NDHs sind die Kinder nicht-deutscher Herkunft und die LMBs sind die Lernmittelbefreiten, also die, die kein Büchergeld bezahlen. Wir haben in ganz Nord-Neukölln in allen Schulen über 80, teilweise über 90 Prozent, NDH und LMB. Gleichzeitig. Jetzt stellt sich die Frage, was davon der eigentliche Problemindikator ist. In der Zehlendorf International School, da haben Sie auch zu 100 Prozent NDH. Das ist aber kein Problem, weil deren Eltern ihre Kinder ausreichend unterstützen können. Die soziale Dimension ist das Problem. Viele Kinder hier wachsen unter extrem beengten Umständen auf. Ich höre immer wieder von Familien, wo die Kinder zu Hause nicht einmal ein eigenes Bett haben, weil der Platz dafür nicht da ist – geschweige denn für einen eigenen Schreibtisch oder ein eigenes Zimmer.

Sind die Probleme ihrer Ansicht nach also rein finanzieller Natur?
Mein Grundsatz ist immer: Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Alle Eltern lieben ihre Kinder, das ist das Normale. Wir haben hier viele Eltern, die als „bildungsfern“ gelten, die aber genauso das Beste für ihre Kinder wollen. Die wollen, dass ihre Kinder Ärzte, Piloten, Rechtsanwälte werden. Aber sie sehen nicht, dass es dafür erst einmal nötig ist, dass sie ihrem Nachwuchs im frühkindlichen Alter etwas vorlesen müssen.

Und wie verändert man diese Haltung?
Indem man aktiv Elternarbeit macht. Indem man Eltern überzeugt – das machen wir seit Jahren zum Beispiel mit den Stadtteilmüttern – wie wichtig es ist, die Kinder in die Kita zu schicken und zwar frühzeitig. Ich finde das immer so schockierend: Die Kinder gehen in die Vorschuluntersuchung und dann steht da beim Schularzt in der Akte: „In Berlin geboren und aufgewachsen, fünf Jahre alt, Verständigung nicht möglich.“ Das ist eine Katastrophe!

Sie haben den Wegzug der bildungsorientierten Eltern angesprochen. Wie wollen Sie es schaffen, deren Kinder in Neukölln zu halten?
Das ist ein langer Prozess. Wir merken auch schon in den Kitas, dass der Anteil der sozusagen „biodeutschen“ Eltern steigt, aber auch der Eltern aus westeuropäischen Ländern. Wir wollen generell, dass mehr Kinder in die Kitas kommen. Nur die Plätze reichen nicht – zum einen, weil wir nicht genug Räumlichkeiten, aber auch, weil wir nicht genügend Personal haben, um die räumlichen Kapazitäten auszuschöpfen.

Deswegen setzen Sie sich dafür ein, dass Kita-Plätze bezahlt werden sollen?
Ich setze mich für ausreichend und vor allem qualitativ hochwertige Kita-Plätze ein. Grundsätzlich ist die Gebührenfreiheit sicherlich eine gute Sache, aber Berlin hat 60 Milliarden Euro Schulden. Man kann sagen, dass wir uns das leisten müssen, aber andererseits muss man auch fragen, wo die Prioritäten liegen: Wir haben nicht genügend Erzieherinnen, der Betreuungsschlüssel ist nicht optimal – es sind zu viele Kinder in einer Gruppe – und wir haben große Schwierigkeiten, neue Leute für den Erzieherberuf zu begeistern, weil die Bezahlung so schlecht ist. Qualität, gute Bezahlung und eine Verbesserung des Betreuungsschlüssels kosten Geld. Wenn ich nur begrenzt Geld habe, müsste dort, meiner Meinung nach, die Priorität liegen. Und dann kann man immer noch sagen, dass auch Leute mit hohem Einkommen von den Gebühren befreit werden.

Haben Sie selbst als Kind eine Kita besucht?
Natürlich, von klein auf. Ostbiografie: gleich rein! Das prägt mich natürlich bis heute – das war gut.

Ihr Sohn wird in diesem Jahr auch eingeschult. Würden Sie ihn im Bezirk einschulen?
Ich würde so handeln wie jede Mutter oder jeder Vater handelt. Man will, dass sein Kind auf eine Schule kommt, auf der es bestmöglich gefördert wird.

Gibt es das hier in Neukölln?
Natürlich gibt es das, aber es gibt Unterschiede. Das liegt aber nicht daran, dass hier schlechtere Lehrer sind – im Gegenteil. Das ist eine ganz andere Herausforderung, hier zu arbeiten, als in einem gutbürgerlichen Bezirk, wo die Kinder schon fast lesen können, wenn sie in die erste Klasse kommen. Und das hat nichts mit der Herkunft zu tun! Wir haben auch viele Menschen mit Migrationshintergrund, die sehr auf Bildung bedacht sind und sagen: Ich gehe woanders hin. Jetzt kann man den Eltern, die sich so verhalten, Vorwürfe machen, nur bringt uns das kein Stück weiter. Wir müssen sagen: die Kinder, die wir haben, müssen gut gefördert werden. Wir haben immer knappe Ressourcen und knappes Personal, grundsätzlich. Das gilt für alle Bereiche der Kommunalpolitik.

Wie muss diese Förderung in ihren Augen aussehen? Und wie kann sie aussehen, wenn die Gelder dafür nicht vorhanden sind?
Oft müssen wir ausgleichen, was in der familiären und frühkindlichen Förderung der Kinder nicht passiert ist. Dafür ist aber der frühe Kita-Besuch ganz entscheidend. Und das Betreuungsgeld ist dabei absolut kontraproduktiv: Wir versuchen unsere Eltern dazu zu bringen, ihre Kinder möglichst früh in die Kita zu geben und dann kommt einer der sagt: „Guck mal, ich geb‘ Euch Geld, damit Ihr das nicht macht.“ Aus meiner Sicht muss institutionelle Förderung vor individuelle Förderung gehen. In Neukölln nützt es nichts, wenn Sie das Kindergeld um 10 Euro erhöhen, aber wenn Sie Voraussetzungen für Ganztagsschulen, für eine gute Betreuung, für Schulstationen, für Lernwerkstätten schaffen, dann hilft das wirklich weiter.

In der Vergangenheit wurde auch sehr viel Geld in die Rütli-Schule gesteckt und daraus das Prestigeprojekt „Campus Rütli“ initiiert, um den katastrophalen Bedingungen dort Herr zu werden. Was passiert mit den vielen anderen Schulen, die nicht die mediale Aufmerksamkeit genießen und deren Situation oftmals genauso prekär ist?
Man muss ein bisschen unterscheiden: Das eine sind die Baumaßnahmen, das andere betrifft die Lehrerausstattung und die Stundenausstattung und da ist die Rütli-Schule nicht anders gestellt als andere Schulen. Der entscheidende Punkt, der dort gemacht worden ist, ist eine bessere Zusammenarbeit der Institutionen vor Ort. Wir haben dort zwei Kitas, wir haben eine Jugendeinrichtung auf dem Campus-Gelände und wir haben zwei Schulen, die zu einer Gemeinschaftsschule fusioniert sind. In diesen Prozess der inhaltlichen Veränderung ist gar nicht so viel Geld geflossen. Wo viel Geld hineinfließt, sind die baulichen Maßnahmen, nicht um des Prestige willen, sondern, um gute Bildungsvoraussetzungen zu schaffen.

Die Rütli-Quartiershalle wurde bereits für sechs Millionen Euro fertiggestellt. Welche weiteren Bauprojekte stehen noch aus?
Die Großbaumaßnahme fängt eigentlich erst an: der Erweiterungsbau der Schule, damit die Grundschule auch noch mit auf das Gelände kommt. Dazu ein Gebäude für Wirtschaft, Arbeit, Technik, eine pädagogische Werkstatt und ein Elternzentrum. Das kostet 25,5 Millionen Euro. Aber alles, was bis dahin passiert ist, ist vielfach konzeptioneller, pädagogischer Art. Das ist eine andere Herangehensweise an Zusammenarbeit. Und das können andere Schulen auch.

Welche Konzepte meinen Sie damit? Wenn nicht die Bauprojekte, was hat dann den positiven Wandel der Rütli-Schule verursacht?
Ein Wandel an Haltung und an der Frage, wie man an die Kinder herantritt. Sind das Kinder mit Defiziten oder Kinder mit Potenzial? Das hat sich dort grundlegend verändert. Auch die Frage, wie man die Übergänge gestaltet. Das können alle Grundschulen machen, das können auch alle Kitas machen: Wie arbeitet eigentlich die Kita mit der anliegenden Schule zusammen? Gehen wir da mal hin? Stimmen wir uns ab? In der Rütli-Schule haben sie beispielsweise ein Portfolio entwickelt, wo die Kinder schon im Kindergarten mit den gleichen Lerninstrumenten arbeiten, wie dann später in der Grundschule.

Und wie sieht so ein Haltungswandel aus?
Die Volkshochschule bietet dort beispielsweise Türkisch- und Arabischkurse für die Anerkennung als zweite Fremdsprache an. Die brauchen die Kinder für das Abitur. Und wenn diese Kinder die Türkisch- oder Arabischprüfung haben, brauchen sie nur noch Englisch und können mit ihrer Muttersprache zum Abitur. Die Zweisprachigkeit wird zum echten Vorteil. Da müssen Sie keine Millionen investieren.

Aber die eigene Haltung überdenken.
In den Niederlanden zum Beispiel heißt es nicht „Kinder nicht-niederländischer Herkunft“ so wie hier. Da haben Sie das Defizit sofort mit dabei: „nicht-deutscher Herkunft“. Da fehlt etwas. Das kann man auch nicht mehr aufholen. Ich kann auch nicht aufholen, dass ich nicht in Neukölln geboren bin und Sie auch nicht. Pech gehabt. Jetzt kann man sagen: Sie werden nie das Recht haben, die Stadt mitzugestalten – aber dann müssen wir die Hälfte unserer Einwohner abschreiben. Nicht jeder hier hat seine Wurzeln in Neukölln, aber die, die hier sind, können etwas machen für diese Stadt.

Und wie nennen die Niederländer ihre Kinder?
Die Niederländer sagen nicht „nicht-niederländischer Herkunft“, sondern „bilinguale Kinder“.

Der Begriff wird hierzulande auch verwendet, aber häufig mit geografischen Einschränkungen. Kinder, die französisch oder spanisch sprechen, sind bilingual – bei türkisch und arabisch haben sie einen Migrationshintergrund oder sind nicht-deutscher Herkunft.
Genau, das ist wie ein Stigma. „Migrationshintergrund“, das ist einfach nur furchtbar. Es sind alles Neuköllner Kinder. Und wir haben sowieso in allen Schulen über 90 Prozent Kinder mit „Migrationshintergrund“. Sollen wir die nun alle labeln? Das bringt uns nicht weiter.

Das hat Ihr Vorgänger, Heinz Buschkowsky, aber anders gesehen.
Er hat sich auch für Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe aller durch Bildung eingesetzt.

Also von nun an: Neuköllner Kinder überall.
Ich denke, wir müssen die Kinder, die wir haben, bestmöglich fördern, egal wo sie oder ihre Eltern geboren sind. Das ist auch der Ansatz, wie man an eine Einbürgerungsfeier herangehen sollte. Dass man den Leuten sagt: „Sie haben Ihre Wurzeln woanders und das ist auch gut so. Aber Sie leben jetzt hier in unserer Stadt und Sie können dazu beitragen, dass diese Stadt sich gut entwickelt. Wenn wir uns alle auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen, dann können wir auch etwas Gutes schaffen.“ Der Bezirk hat immer davon gelebt, dass Leute von außen gekommen sind und etwas mitgebracht haben.

Hier geht’s zum ersten Teil des Interviews.

[Das Interview wurde vor der Debatte um die Bewerbung Betül Ulusoys beim Bezirksamt Neukölln geführt, weshalb das Thema keine Erwähnung findet.]

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