Bedrohungen, brennende Autos, mit Parolen beschmierte Häuserwände. Dies ist nur die Oberfläche der seismischen Welle, die Neukölln seit letztem Jahr erschüttert. Propaganda und sogenannte sonstige Delikte, welche alle weiteren Strafrechtsnormen der Strafgesetzbücher beinhalten, sind ebenfalls stark angestiegen. Laut einer Stellungnahme von Torsten Akmann, Staatssekretär der Senatsverwaltung für Inneres und Sport, könnte es sich bei den Tätern, die in jüngster Zeit ermittelt werden konnten, um regional organisierte Rechtsextremisten handeln, die entweder dem Netzwerk Freie Kräfte oder aber dem NPD Kreisverband Neukölln zugeordnet werden könnten. Die Pressestelle der Polizei wollte dies auf Anfrage nicht kommentieren, über laufende Ermittlungsverfahren gebe man dort grundsätzlich keinerlei Auskunft.
Wen treffen die vermutlich rechten Attacken?
Im Fokus der Attacken stehen vorrangig Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Die meisten der Verbrechen fanden im Süden Neuköllns statt. So traf es unter anderem die SPD Politikerin Mirjam Blumenthal, deren Auto Mitte Januar brannte. Sie benötigt seitdem Polizeischutz. Das Auto der Politikwissenschaftlerin Claudia von Gélieu und ihres Ehemanns Christian, welche sich in der Galerie Olga Benario, benannt nach der jüdischen Kommunistin, engagieren, wurde ebenfalls durch einen Brandsatz zerstört. Nachdem zuerst der Laden des Buchhändlers Heinz Ostermann (das Leporello) mit Steinen oder anderen stumpfen Gegenständen angegriffen wurde, brannte auch kurze Zeit später dessen Auto aus. Fast zeitgleich traf es ebenfalls das Auto des bekannten IG-Metall-Aktivisten Detlef Fendt. Ostermann organisiert Lesungen, in denen er auf das Problem der wachsenden, rechtspopulistischen Parteien aufmerksam macht, Fendt ist seit Jahren für sein Engagement gegen rechtsextreme Strömungen bekannt.
In der Nacht 11./12.12. sind Scheiben der #Leporello Buchhandlung in B-#Rudow eingeworfen worden, vermutlich rechtsextreme Tat. @bbl_news pic.twitter.com/RL1J2Qosv6
— Letnapark (@Letnapark) 14. Dezember 2016
Das linke Café k-fetisch hatte Glück, dass ein Brandsatz, welcher unter die Rollladen des Ladens gelegt wurde, offenbar nicht richtig zündete und somit ein Übergreifen der Flammen auf das Haus nicht stattfand. Die Jugendorganisation Falken Neukölln, über die wir vor einiger Zeit berichtete, wird ebenfalls immer wieder Opfer rechter Attacken. Nachdem es nun einige Zeit ruhig war, brannte Anfang Mai, abermals in der Hufeisensiedlung, das Auto einer Frau, welche sich für Flüchtlinge einsetzt.
Warum gibt es rechtsradikale Tendenzen in Neukölln?
Wie kommt es, dass der Rechtsruck ausgerechnet durch den Schmelztiegel Neukölln geht, dessen Regierung seit Jahren einen roten Kurs fährt? Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund liegt bei knapp über 42%, der Ausländeranteil bei 23,5 %. Die Bevölkerungsdichte ist hoch, genauso wie die Kinderarmut. Der Anteil der Personen mit niedrigem Bildungsstand liegt bei 26,6% und ist somit einsamer Spitzenreiter in Berlin, wo der Gesamtdurchschnitt bei ca. 15% liegt. Diese Daten entstammen dem Sozialbericht Neukölln vom letzten Jahr. Handelt es sich hier also um frustrierte, bildungsferne Menschen, ohne Aussicht auf gut bezahlte Jobs, die die Schuld an ihrer persönlichen Misere nun dem politischen Gegner zuschreiben oder gibt es in Neukölln seit jeher ein Problem mit Rechtsextremismus?
War der Schwerpunkt der rechts motivierten Straftaten als gesamtberliner Phänomen in der Vergangenheit eher in den östlichen Bezirken anzusiedeln, scheint es nun, als würde das Epizentrum immer weiter gen Süden wandern. Konnte man, laut einer Studie von Dr. Prof. Richard Stöss, einem der führenden Experten auf diesem Gebiet, Rechtsextremismus in der Wendezeit durchaus auf sozialen Wandel und technologische Modernisierung, den Bedeutungsverlust des Nationalstaats und Multikulturalität zurückführen, bedarf es heute, fast 30 Jahre später, abgesehen von der Thematik der Multikulturalität, anderer Erklärungsversuche.
Nach einem Jahrzehnt tiefgreifender, politischer Veränderungen, bestehend aus Reformen im Sozial- und Arbeitssektor, der mancherorts immer noch nicht verdauten globalen Weltwirtschafts- sowie der Flüchtlingskrise, scheint es, als ginge eine neuerliche Radikalisierung mitten durch die Gesellschaft. Die Veränderung der Politiklandschaft schürt sicherlich Ängste in nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung – anders wäre der Aufstieg der populistischen Parteien nicht zu erklären. Warum aber mittlerweile die Gewalt, nachdem es einige Jahre ruhig in Neukölln war wieder zunimmt, gibt Rätsel auf. Die Anfang des Jahres gegründete, sechsköpfige Ermittlungseinheit RESIN (Rechte Straftaten in Neukölln) scheint zumindest ein Anfang, um der Problematik Herr zu werden.
Hat Neukölln ein Rassismus-Problem?
Begibt man sich auf die Suche nach Rassismus in Neukölln, wird man schnell fündig. Samstagnachmittag, 15:30 Uhr, Bundesliga – eine Eckkneipe auf der Hermannstraße. Nachdem die angefeuerte Mannschaft nicht die gewünschte Leistung erbringt, müssen Gründe für das Versagen her. Der geneigte Fußballfan käme hier sicherlich zu dem Schluss, dass Taktik und Aufstellung dem Gegner nicht gerecht angepasst wurden – nicht so der Stammtisch in besagter Kneipe. Nachdem ein schwarzer Spieler der gegnerischen Mannschaft ein Foul begangen hatte, kam es zu klischeehaften Affenlauten und Bananensprüchen. Nach der gefühlt achten Runde Bier der illustren Stammtischgesellschaft ging es dann nicht mal mehr ansatzweise um Fußball, sondern darum wie sehr Ausländer alles unterwandern – sogar die heilige, deutsche Bundesliga. Alltagsrassismus par excellence.
Daraus zu schließen, Neukölln sei ein rechtsradikaler Bezirk, wäre allerdings falsch – so zählt der harte Kern der bekannten Rechtsextremisten lediglich 10-15 Personen. Zudem wird es immer schwieriger, Rechtsextremisten auch als solche zu erkennen. Am Beispiel der Identitären Bewegung erkennt man die Anpassungsfähigkeit des rechten Lagers – Turnschuhe, Kapuzenpullover, Social-Media-affin, hip. Redet man über rechte Gewalt in Neukölln, so darf man nicht außer acht lassen, dass es vermutlich seitens einiger linker Krawallmacher in letzter Zeit auch zu Brandanschlägen gekommen ist.
Was tun die Neuköllner dagegen?
Man kann der Neuköllner Bevölkerung nicht vorwerfen, nicht genug gegen rechte Störenfriede zu unternehmen. Es gibt unzählige Initiativen, Vereine und Privatpersonen, wie z.B. Hufeisern gegen Rechts oder Kein Ort für Nazis, deren Anliegen es ist, Neukölln „Nazi-Frei“ zu halten – sie organisieren Demonstrationen, Kampagnen und Lesungen. Allerdings wäre es nötig, das Problem an der Wurzel zu packen – der Etat der Schulen müsste erhöht, dauerhafte, innerschulische Kampagnen lanciert werden. Denn da wo die Erziehung mancher Eltern versagt, muss der Staat in die Bresche springen. „Es muss mehr politische Bildung stattfinden, es wurde viel an den falschen Stellen gespart“, so Mirjam Blumenthal. Hier sei die Politik gefordert. Eine Erklärung für rechte Tendenzen innerhalb der Bevölkerung zu finden ist somit kein leichtes, aber doch nötiges Unterfangen – dass die Richterskala weiter gen Höchststand wandert, wird sich wohl kaum jemand wünschen.
Kommentare:
Also zumindest im Straßenbild nehme ich in Neukölln keine Rechtsradikalen wahr; Islamisten sehe ich aber fast täglich. Deshalb fände ich einen Artikel, der sich mit dieser Form politischen Extremismus beschäftigt auch mal interessant.
Da haben Sie recht, in Nord-Neukölln sieht man dergleichen kaum. Anders sieht die Sache im Süden aus, in Rudow oder Britz. Dort sieht man „Nazis“, so wie man sie sich eben vorstellt, des Öfteren. Ihre Idee ist sicherlich interessant – wir bleiben am Ball und werden schauen, ob uns berichtenswerte Ereignisse dahin gehend erreichen.