Manchmal bräuchte es eben Visionen. Auch unter Politikern. Doch schaut man auf die aktuelle Debatte um die Entwicklung des ehemaligen Berliner Flughafengeländes Tempelhofer Feld, stellt man weniger überrascht als ernüchtert fest: deren Vorstellungskraft reicht nicht besonders weit.
Dabei lädt das über 380 Hektar große Gelände, das derzeit als Parkfläche genutzt wird, geradezu dazu ein. Weitblick ermöglicht das spärlich bepflanzte Rollfeld, ungetrübt durch Blumenrabatten oder künstliche Seen. Hier können Gedanken wandern, fast wie am Meer. Doch verwirklicht Bausenator Michael Müller (SPD) seinen „Tempelhofer Freiheit“ genannten Masterplan, stünde hier bald einiges im Weg: Wohnquartiere für mehrere Tausend Menschen, Gewerbeeinheiten, ein Busbahnhof, ein großes Wasserauffangbecken und ein mondäner Neubau der Zentral- und Landesbibliothek.
Senatspläne wie ein Ausverkauf
Als Argumente für die Bebauung dienen vor allem die zunehmende Wohnungsknappheit und das Vorhaben, auch bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Von einem „internationalen Zentrum für Kultur-, Medien- und Kreativwirtschaft“ ist die Rede. Richard Florida lässt grüßen. Der US-Ökonom fand schon 2002 heraus, dass nur jene Städte gut gedeihen, in denen sich Kreative wohl fühlen. In Tempelhof bliebe der Parkcharakter erhalten, versichert der Senat, nur rund 60 Hektar sollen bebaut werden – das Grün fungiere zugleich als „Kühlschrank für die Stadt“. Also alles richtig gemacht und sowohl Kreativität als auch Nachhaltigkeit als Schlüssel für Stadtentwicklung bedacht?
Um zukunftsfähig zu bleiben, bräuchte es eben mehr. Man muss Müllers und Floridas Köpfe, ihre Vorstellungswelt rund um Wettbewerbsvorteile und den Kampf um die Attraktivität von Standorten, gar nicht verlassen, um festzustellen, dass Patentrezepte nicht ausreichen. Auch die sind selten visionär. Hier geht es nicht nur um das Tempelhofer Feld. Die Stadt könnte ein Zeichen setzen, um sich seiner Identität zu vergewissern. Sich auf das besinnen, was sie zu einem solchen Anziehungspunkt gemacht hat: auf kreativ besetzte Leerstellen und Brachen, die durch geschichtliche Umwälzungen entstanden sind. Wenn die lokale Spezifik, das Alleinstellungsmerkmal übergangen und aufgegeben wird, kann eine erfolgreiche Stadtentwicklung nicht gelingen. So wirken die Senatspläne wie ein Ausverkauf, nicht wie eine Investition.
Jetzt braucht es weitere Unterstützer
Vor dem Hintergrund der Tragweite der Entscheidung, was mit der Freifläche in Tempelhof geschehen soll, verwundert, dass das Volksbegehren der Bürgerinitiative „100% Tempelhofer Feld“ nicht mehr Unterstützer fand – auch wenn es letztlich erfolgreich war. Die Landeswahlleiterin Petra Michaelis-Merzbach gab diesen Dienstagmorgen bekannt, dass die Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“ 185.328 gültige Unterschriften für ihr Volksbegehren gesammelt hat. Mindestens 174.117 Unterschriften waren für den Erfolg der Initiative nötig gewesen.
Zwischenzeitlich wurde die Initiative durch die in einem Artikel der Berliner Zeitung zitierten Aussagen von SPD-Politikern in Misskredit gebracht. Nachdem das Neuköllner Bezirksamt das eigene Prüfverfahren der abgegebenen Unterschriften problematisiert hatte und herausgekommen war, dass hier nach weniger strengen Regeln geprüft werde als in anderen Bezirksämtern, brachten die Stadträte Thomas Blesing (Neukölln) und Oliver Schworck (Tempelhof-Schöneberg) die Möglichkeit massiver Fälschungen von Unterzeichnern ins Spiel. „Wir befanden es bisher nicht für notwendig, uns damit zu befassen, da wir vollstes Vertrauen in die Loyalität der Wahlämter haben“, reagierte Felix Herzog vom Vorstand der Tempelhofer Feld-Initiative in einer Pressemitteilung. Sobald sich der Erfolg eines Volksbegehrens oder ein Volksentscheids abzeichne, befalle den Senat und die Politiker offensichtlich das Fremdeln mit der plebiszitären Demokratie, heißt es darin.
Das Volksbegehren ist geglückt, nun muss sich das Abgeordnetenhaus mit dem Gesetzentwurf der Initiative befassen. Lehnt dort eine Mehrheit das Gesetz ab, muss innerhalb von vier Monaten ein Volksentscheid herbeigeführt werden. Dann müsste die Initiative ein Viertel der Berliner überzeugen und noch klarer machen, dass hier nicht nur die Freiheit des Tempelhofer Feldes verteidigt wird, sondern das langfristige Wohl ihrer Stadt.
Der Kommentar ist in einer kürzeren Fassung in „der Freitag“ vom 16.01.2014 erschienen.