Text: Regina Lechner und Franziska Grammes, Fotos: Yanina Raspa
Das unkonventionelle Format des Let Me In Festivals stammt aus Spanien, wie auch einige der Initiatoren und Künstler. Das Team ist jedoch sehr international, weshalb die Begrüßung und Einführung in der Bar Nur 7 Monate in vier Sprachen stattfindet: auf Deutsch, Englisch, Spanisch und Portugiesisch wird das Konzept der Veranstaltung erklärt. Die Besucher finden sich anschließend in Gruppen zusammen und beginnen ihre Tour durch die Nachbarschaft.
Unsere erste Station: Der Buchladen Topics, in dem zwei vermeintliche Kunden von einer Angestellten bedient werden. Die Gruppe der Festivalbesucher befindet sich jedoch bereits mitten in der ersten Performance des Abends. Im Stück “Laberinto” des Kollektivs La Ejecutora wollen zwei junge Frauen herausfinden, ob die Verkäuferin mit dem Exfreund eines der beiden Mädchen zusammen ist. Sie verstricken sich in Widersprüchen und geraten immer tiefer in das Labyrinth, das den Titel gab. Die peinliche Situation wird für die Zuschauer gut nachvollziehbar, doch die Darstellerinnen wirken noch etwas steif und sprechen künstlich und übertrieben. Ihnen fehlt eine gewisse routinierte Lockerheit, und vielleicht ist es auch die besondere Nähe zum Publikum, die sie nervös macht.
Weiter geht es zur zweiten Station, dem Laden Obst und Gemüse. Mit dem Festival wollen die Initiatoren auch einen neuen Blick auf die Weserstraße geben und das Publikum an spezielle Orte führen, wie unser Guide im Gespräch verrät. Das gelingt an dieser Stelle auf jeden Fall: Im Boden des Ladens wird eine Klappe geöffnet und die Gruppe klettert einer nach dem anderen eine steile, selbstgebaute Treppe in den düsteren Keller hinab. Dort befindet sich eine Tribüne, vor der bereits der Performer des nächsten Stücks kniet. Sein Name ist Tizo All, er trägt nur eine schwarze Shorts und hat die obere Hälfte seines Gesichts rot angemalt. Sein Körper wird zur Leinwand, auf die zunächst Punkte, Linien und amorphe Strukturen projiziert werden. Dann richtet eine weitere Künstlerin die Kamera auf ihn, und All beginnt, mit seinem Spiegelbild zu interagieren. Der gesamten Aufführung ist eine eigens komponierte Soundkulisse unterlegt. Das Stück ist auf eine poetische Weise ergreifend und lässt viel Raum für Interpretationen.
Getanzter Stierkampf
Unser nächster Stopp ist das Nur 7 Monate, eine alte Eckkneipe, die bald saniert werden soll. Im durchaus baufälligen Hinterzimmer sind einige Reihen aus Stühlen und Plüschsofas aufgestellt. Als die Gruppe sitzt, positioniert sich Anna Natt in einer Ecke und beginnt ihr Stück “Uro”. Die Amerikanerin tanzt seit Jahren Flamenco, und einige Elemente des energetischen Tanzes finden sich auch in ihrer Aufführung wieder. Das Stück bleibt zunächst rätselhaft und erschließt sich erst beim Durchlesen des zugehörigen Textes: “Uro ist was zurückbleibt, wenn der Pomp eines Stierkampfes entfernt wird, seine Einzelteile auseinander genommen werden und seine Bewegungen einzeln analysiert werden”. Anna Natt zieht furchteinflößende Grimassen, die gleichermaßen an den hochkonzentrierten Stierkämpfer und den Stier im Todeskampf erinnern. Der lange Speichelfaden, der während der Performance aus Natts Mund rinnt, gehört daher wohl ebenso dazu wie ihr nackter Hintern, dem sie dem Publikum immer wieder entgegen streckt oder ihre immer dramatischer wegknickenden Füße.
Letzte Station des Abends ist schließlich ein Balkon zur Weserstraße. Mit rotem Flatterband ist ein Parkplatz abgesteckt, auf dem sich die Gruppe der Zuschauer aufstellt. Sophia Seiß und Diana Treder betreten den Balkon in Bademänteln. Im Laufe der Aufführung von “Augenmenschen im Schrägsystem” finden sich immer mehr Passanten ein, die sehen wollen, was hier passiert. Eines der Mädchen beginnt, mit einer Kamera den Körper ihrer Freundin in Nahaufnahme abzufilmen. Das Bild wird auf einen kleinen Fernseher unter dem Balkon übertragen. Schließlich kommentieren sie das Verhalten ihrer Zuschauer, kehren die Voyeur-Perspektive um.
Gegenüber hat sich ein Mann mit Schnapsflasche in der Hand positioniert, der das Geschehen gröhlend kommentiert. Er ist kein Darsteller, wird in diesem Moment aber trotzdem Teil des Stücks. Gespannt fragt sich das Publikum, was gleich geschehen mag, als plötzlich ein Polizeiwagen anhält. Die beiden Schauspielerinnen beschallen die Straße mit lauter Musik. Ein Polizist steigt aus und beginnt die Szenerie zu filmen. Es wirkt fast, als sei es geplant. Und damit geht das Vorhaben der Künstlerinnen auf, die Grenzen zwischen Darsteller und Publikum zu verwischen. Ein Merkmal, das den ganzen Abend bestimmt hat: Die Macher von Let Me In sind mit Herzblut dabei und haben mit viel Idealismus ein Programm auf die Beine gestellt, das nichts mit dem elitären Kulturbetrieb zu tun hat. Das macht ihr Festival so authentisch, und in der Weserstraße haben sie den perfekten Rahmen dafür gefunden.
Und hier 1 Minute voller Impressionen vom ersten Festivaltag, festgehalten von Florence Freitag: