Hypnotisierende Galgenlieder

Thomas Götz ist Drummer der Band Beatsteaks und betreibt nebenbei ein kleines Liebhaber-Plattenlabel. Darauf ist jetzt eine wunderbar experimentelle Platte des Flötisten Mila Morgenstern erschienen. Wir haben beide Musiker zum Doppel-Kiezkopf-Interview getroffen.

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Dienstag, 19. Juni 2018

Mit den Beatsteaks hat Thomas Götz gerade erst wieder die ausverkaufte Waldbühne gerockt. „Nach Feierabend“, wie er selbst sagt, betreibt er das Kleinst- und Liebhaberlabel Tomatenplatten. 2011 hat er es gestartet, um zunächst die Musik seines Solo-Projekts Einerbande zu veröffentlichen. Letztes Jahr kam dann ein Release der Garagerock-Band Die Tunnel dazu.

Die neuste Tomatenplatte nennt sich „Morgenstern“ und ist eine Kooperation zwischen Götz und Mila Morgenstern. Morgenstern ist Flötist und spezialisiert auf indische Klassik. Die fünf Songs auf der neuen EP klingen jedoch sehr viel anders als die Musik, die er bisher gemacht hat – nicht zuletzt, weil er zum ersten Mal mit einem Sprechgesang zu hören ist.

Wie das gemeinsame Experiment entstanden ist, haben uns die beiden bei Cappuccino und Käsekuchen erzählt, umgeben von Milas beeindruckender Flötensammlung in seiner Wohnung im Schillerkiez.

Thomas Götz (li.) und Mila Morgenstern vor Milas Flötensammlung.

Mila, wie bist du eigentlich zur Flöte gekommen? Oder ist die Flöte zu dir gekommen?
Mila Morgenstern: Ich hab eine große Reise nach Asien gemacht. 1978 bin von Berlin aus auf dem Hippie-Trail in die Türkei gefahren, durch Persien, Afghanistan, Indien, Sri Lanka. In Sri Lanka hatte ich dann zum ersten Mal eine Flöte, die ich erst mal nur alleine für mich gespielt hab. Dann bin ich weiter nach Thailand, Malaysia, Singapur, Indonesien. Da bin ich dann schon in Hotels aufgetreten, mit Bands, die Standards gespielt haben. Danach war ich in Australien, Japan, Philippinen, und hab da immer wieder in Clubs gespielt. Unterwegs habe ich Flöten gesammelt. Und Leute getroffen, die Musik machen, von denen ich gelernt habe. 1981 bin ich nach Berlin zurückgekommen und hab den indischen Meister Kamalesh Maitra kennengelernt. Er hat mich in sein Ensemble aufgenommen und mit ihm habe ich fast 20 Jahre gespielt. Aber auch in anderen Formationen habe ich gespielt, zum Beipsiel mit Bob Downes, einem Flötisten aus England.

Wie kann man sich die Musikszene Anfang der 80er in West-Berlin vorstellen? Wie wurdet ihr von anderen Musikern wahrgenommen?
Morgenstern: Indische Musik war richtig angesagt und es gab sehr viele Spielorte. Zeitungen und Magazine haben viel über uns berichtet. Wir haben damals etwa oft im Café Einstein gespielt, indische Musik und Jazz, bis dann der damalige Besitzer gestorben ist. Danach sind nur noch Philharmoniker aufgetreten. Unsere Musik war den neuen Betreibern zu flippig.

Mila komponiert auch selbst Musik, die er mit der traditionellen indischen Notation schreibt.

Seid ihr auch in Indien aufgetreten? Wie kam es dort an, dass Europäer indische Musik spielen?
Morgenstern: Mit Kamalesh bin ich oft nach Indien gereist. Für die Inder war das was Besonderes. Sie haben es als Wertschätzung gesehen, dass wir ihre Musik spielen. Hier war indische Klassik aber dann irgendwann nicht mehr so angesagt. Selbst wenn Musiker hier auftreten, die in einer Szene sehr bekannt sind, kommen jetzt vielleicht 40 Leute. Damals wären 2000 gekommen. Mit Ravi Shankar fing das an, dass indische Musik im Westen bekannt wurde. Mit dem Konzert für Bangladesh gab es einen richtigen Boom. Indische und westliche Musiker haben viel zusammen gespielt.

Wie habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt?
Morgenstern: Über die Freundin von Thomas, deren Schwester auch hier im Haus wohnt.
Götz: Ich hab damals gehört, dass hier jemand wohnt, der mit seiner Flöte Leute hypnotisieren kann. Die Neffen meiner Freundin sind als Kinder immer zu Mila gegangen und er hat sie in den Schlaf gespielt. Das hab ich dann auch mal machen lassen und bin abgetaucht.

Warum wirkt die Flöte so beruhigend?
Morgenstern: Der Gesang war als erstes da. Aber das erste Instrument, das der Mensch selbst hergestellt hat, war eine Flöte. Man hat damals Knochen ausgehöhlt, schon 4000 Jahren. Zum Beispiel in der Schwäbischen Alb, wo Thomas herkommt, gibt es Höhlen, in denen man solche alten Flöten gefunden hat.

Wie ist eure gemeinsame Platte entstanden?
Götz: Das Projekt Nina Marie mache ich mit einem Freund zusammen, Marten von der Band Turbostaat. Für eines unserer Instrumentalstücke dachte ich, wir fragen einfach Mila, ob er ein Flötensolo drauf spielt. Und da haben wir zum ersten Mal zusammen aufgenommen.
Morgenstern: Thomas hat dann einen Vierspur-Rekorder gekauft und wollte darauf etwas mit mir produzieren. Ich habe auch was aufgenommen, aber das Gerät ging kaputt und die Aufnahme war im Eimer. Dann hab ich Thomas davon erzählt, dass ich gern diese Morgenstern-Gedichte vertonen würde. Wir haben was zusammen ausprobiert und erste Sachen aufgenommen. Thomas hat mir eine Soundkarte gegeben und gezeigt, wie ich selbst etwas aufnehmen kann.
Götz: Ich hab das Material dann ins Studio mitgenommen und dazu Schlagzeug und Orgel eingespielt. Zusammen haben wir nie gespielt. Und am Ende hat Mila die Gedichte drüber gesprochen.

Mila, du arbeitest zum ersten Mal auf einer Platte mit deiner Stimme, wie kam es dazu?
Morgenstern: Thomas hatte die Idee, dass ich Gedichte lese und auch etwas singe. Dann wurde ich immer freier da drin.
Götz: Es ist ja eine Fantasiesprache. Nicht so, wie wenn jetzt ein Kind englische Songs falsch nachsingt. Es ist mehr Dada, lautmalerisch, das hat mir gut gefallen

Die Platte ist in drei verschiedenen Varianten erhältlich, aber immer mit mehrfarbigem Siebdruckcover.

Der Sprechgesang beruht auf Gedichten aus der Sammlung „Galgenlieder“ von Christian Morgenstern. Wie bist du auf die Texte deines Namensvetters gekommen?
Morgenstern: Ich hab mit Kamalesh in München gespielt und wir haben nach dem Konzert am Ammersee übernachtet bei einem Produzenten. Er hat mich gefragt, ob ich Morgenstern kennen würde. Aber der Name hat mir nichts gesagt. Und es stellte sich raus, dass er früher genau dort am Ammersee gewohnt hat. Also hab ich mir seine Bücher gekauft und bin da total drauf abgefahren.

Wie lange lebt ihr schon in Neukölln? Was hat euch hergebracht?
Morgenstern: 20 Jahre, vorher in Schöneberg am Innsbrucker Platz. Dort hab ich einem Haus mit in alten Fabriketagen gelebt, alles große WGs. Freunde sind dann hier nach Neukölln gezogen und haben gefragt, ob wir mit einsteigen wollen. Aber ich wollte hier erst nicht hin. Neukölln, das waren für mich Eckkneipen, keine gute Atmosphäre. Und auch der Fluglärm vom Flughafen Tempelhof. Die alten Eigentümer wollten das Haus hier verkaufen. Die Bewohner haben sich dann als Verein zusammengetan und das Haus übernommen, und ich bin auch mit eingestiegen. Über eine Bank haben wir eine Finanzierung bekommen und einen Vertrag aufgesetzt, der besagt, dass das Haus kein Spekulationsobjekt sein darf.
Götz: Bei mir war es die Auflage meiner Freundin, dass sie nicht weiter als 500 Meter von ihrer Familie entfernt wohnen will. Ihre Schwester und ihr Bruder wohnen beide hier im Haus.
Morgenstern: Die Hausgemeinschaft ist einfach gut. Klar, bei rund 30 Leuten hat man mit einem mehr und mit dem anderen weniger zu tun. Aber es ist für uns heute einfach ein Lottogewinn, dass wir das damals zusammen gemacht haben.

Die Platte „Morgenstern“ ist am 8.6.2018 bei Tomatenplatten erschienen, streng limitiert auf 150 Exemplare mit aufwendigem Siebdruckklappcover sowie als Download.