Fotos: Plastique Fantastique
Immer mehr Menschen versuchen derzeit, Europa zu erreichen, und nicht wenige müssen dabei ihr Leben lassen. Auch in der Kunst wird derzeit zu immer drastischeren Mitteln gegriffen, um auf die Dringlichkeit einer Lösung hinzuweisen – wie jüngst die Aktion „Die Toten kommen“ des Zentrum für politische Schönheit. Im Rahmen von 48 Stunden Neukölln schlägt ein internationales Künstlerkollektiv eher poetische, aber doch eindringliche Töne an. Im Inneren des gigantischen Flüchtlingsboots hören die Besucher Auszüge der in mehreren Sprachen gelesenen „Odyssee“ von Homer sowie fragmentarische Stimmen von Betroffenen.
Die 25 Meter lange und 12 Meter breite Raumskulptur wird kaum zu übersehen sein. Ganze 300 Quadratmeter wird das aus einer transzulenten Membran bestehende Flüchtlingsboot auf der südlichen Landebahn des Tempelhofer Flugfelds einnehmen – zusammen mit der geplanten „Speakers Corner“, die Raum für Diskussion bieten soll, 500 Quadratmeter. Mehr als einen Monat verschweißte und vernähte das Künstlerkollektiv Plastique Fantastique um den in Berlin lebenden italienischen Künstler Marco Canevacci dafür PE-Folien in einer frei stehenden Ladenfläche in den Neukölln Arcaden. Der obere Teil ist transluzent bzw. durchscheinend, der untere weiß. Nur dreißig Minuten wird es dauern, das 80-Kilogramm-Leichtgewicht mit Hilfe von nahezu geräuschlosen Axial-Rohrventilatoren zu voller Pracht aufzublähen.
Kunst als Protest gegen das Unvermögen der Politik
Das gigantische Schlauchboot wird ab Freitag halb auf dem Rollfeld, halb auf der Wiese liegen. Die Idee von Canevacci war es, dass es nach einer langen Odyssee hier gestrandet ist. Eine Anknüpfung an die Irrfahrt des Odysseus aus der Dichtung von Homer. „Ich wollte Poesie anwenden, um gegen die laufende Katastrophe und die politische Schande unserer Regierungen zu protestieren“, erklärt der Italiener. Homers Odyssee stellt für Canevacci, der mit der Künstlergruppe Plastique Fantastique schon in London, Genf oder Mailand gigantischen Raumskulpturen aufstellte, eine „Urgeschichte unserer Kultur und eine unwiderruflich aktuelle Thematik“ dar.
Für das Projekt arbeitet Canevacci zusammen mit dem italienischen Sound Designer Marco Barrotti und der freischaffenden Neuköllner Künstlerin Hadmut Bittiger. Barrotti wird die Geschichte Homers mit den Interviews von Bittiger zu einer ungewöhnlichen Klangkomposition verarbeiten, die im Inneren des Bootes aus diversen Lautsprechern schallt. Im melodischen Klang dieser Erzählungen werden die Fragmente der Interviews, die Bittiger für dieses Projekt mit Geflüchteten aus der ganzen Welt geführt hat, wie Aufschreie klingen.
Diese Stimmen, die in vielen Sprachen Dinge sagen wie „Wenn diese Boote fahren, dann beginnt das Leiden. Kein Essen, kein Wasser, kein gar nichts …warten,“ hat Bittiger in vielen Einzelgesprächen mit Geflüchteten aus Syrien, Nigeria oder Pakistan aufgenommen. „Flüchtlinge zu finden, die sich interviewen lassen wollten, war eine Odyssee für sich,“ merkt die Künstlerin an. Viele seien angesichts ihrer traumatischen Erfahrungen und der derzeitigen medialen Aufmerksamkeit nicht zu Gesprächen bereit. Seit rund zehn Jahren beschäftigt sich die Künstlerin mit der Thematik. Daneben engagiert sich als ehrenamtliche Helferin in Flüchtlingsunterkünften. Ihre Gespräche und Erlebnisse verarbeitet sie unter anderem in auditiv-visuellen Installationen.
Das LIVEBOAT Chapter 5 stellt nicht nur visuell, sondern auch akustisch ein eindrückliches Mahnmal dar. Es erinnert uns daran, dass die Flucht von Menschen nicht nur eine jahrtausendalte Geschichte ist, sondern auch daran, dass hinter dem Sammelbegriff „Geflüchtete“ individuelle Schicksale stehen.
LIVEBOAT – Chapter 5
SCHI-09
Tempelhofer Feld, Nähe Eingang Oderstraße
Fr 19 bis 22, Sa 10 bis 20 , So 10 bis 19 Uhr.
Kommentare:
ich hätte gern die mail Adresse von Hadmut Bittiger
wir kennen uns aus der gemeinsamen Freiburger Zeit …1992…
leider ist der Kontakt abgebrochen, deshalb bitte ich freundlichst ,um die Weiterleitung meiner Adresse an H.B.