Was die Berichterstattung zu Neukölln angeht, ist das Magazin Tip Entdeckungsreisender: Auf der Suche nach „Berlins Lower East Side“ hat es den „Spielplatz der Avantgarde“ entdeckt. Ein Jahr später – auf jeder Schaukel vom „Künstlerspielplatz“ mal geschaukelt, auf allen Pferden im Karussel mal gesessen – trifft das Stadtmagazin schließlich die Erkenntnis: „Nord-Neukölln ist ein Lebensgefühl.“ Womöglich ist jenes Gefühl auch auf die altbekannten Wirren der Optik nach zuvielen Runden auf dem Karussel zurückzuführen. Man weiß es nicht. Als Entdecker unbekannter Welten schien der Tip-Redaktion eine weitere Frage auf der Seele zu brennen: „Wohin geht die Reise des neuen Szenebezirks?“
Vor lauter Aufregung hat man sich seine Antwort nun selbst zusammen geschustert: „Mobilmachung im Neuköllner Schillerkiez“ – der Künstlerspielplatz vor dem Aus, zu einem Kriegsschauplatz mutiert?
Jetzt aber erstmal der Reihe nach:
„Drohbriefe, Vandalismus, Kiez-Patrouillen und Pöbeleien auf der Straße: Wie Gruppen aus dem Stadtteilladen Die Lunte im Neuköllner Schillerkiez im Namen von Gentrifizierungskritik mobilmachen gegen Studenten, Künstler und Zugezogene.“ – so beginnt der Tip-Artikel, der in Neukölln für Aufruhr sorgte (Der verlinkte Online-Artikel ist eine gekürzte Fassung des Print-Beitrags, der unter dem Titel „Ihr werdet schon sehen“ erschienen ist). Linke Gruppierungen sollen also den Schillerkiez unsicher machen und schreckten dabei nicht vor unschönen Methoden zurück. Von „Drohbriefe[n], Vandalismus, Kiez-Patrouillen und Pöbeleien“ ist die Rede. Dabei kommen Betroffene aus dem Kiez zu Wort, die den Eindruck der geschilderten aggressiven Stimmung gegen die neuen Kiezbewohner untermauern. Unter ihnen: Julie Grosche von der PM Galerie, Reihard Greinke und die Künstlergruppe „Der Kanal“. Die Betroffenen wollten diese Schilderungen so nicht gelten lassen, uns erreichte eine Gegendarstellung.
Die Initiative „Analyse, Kritik, Aktion“ veröffentlichte Anfang Oktober auf ihrer Internetpräsenz einen offenen Brief an die Tip-Redaktion, in dem sie sich, gemeinsam mit einigen der im Artikel zitierten Protagonisten, von dem geschilderten Szenario distanziert: „An die Redaktion der TIP-Taliban und ihre Symphathisant_innen!„, so die Überschrift. Weiter heißt es darin: „Wir sind empört! Wir sind entweder falsch zitiert oder gar nicht interviewt worden.“
Wir haben nachgefragt: Aurélia Defrance, Mitgründerin der PMgalerie und Kollegin der zitierten Julie Grosche, bestätigt zwar die Richtigkeit ihrer Zitate, meint aber, dass der Gesamtzusammenhang nicht stimme. So ist im Tip-Artikel die Rede von einem Drohbrief, den die Galerie erhalten haben soll. Es wird der Eindruck erweckt, der besagte Brief stamme von den Lunte-Leuten. Aurélia Defrance dazu: Den unfreundlichen Brief habe man zwar erhalten, allerdings sei das vor zwei Jahren gewesen und seitdem sei nichts mehr geschehen. Sie und ihre Kollegin würden sich in ihrem neuen Umfeld sehr wohl fühlen und ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn pflegen. Auch Reinhard Greinke (Weinhandlung Weinstein) bestätigt im Artikel erwähnte Anfeidungen, meint aber ebenso, dass sich die Lage wieder beruhigt habe.
Zu Besuch beim Projektraum Der Kanal…
…liefert Adrian Grunert eine nicht ganz unerhebliche Information: Keines der acht Mitglieder des Kanals habe jemals mit Katharina Wagner, Autorin des Tip-Artikels, gesprochen oder auch nur Kontakt gehabt. Eine Mail habe er bekommen, aber nicht beantwortet.
Dass das Magazin daraufhin aus einem Drohbrief direkt zitiert, mit dessen Empfängern, dem Kanal, die Journalistin nie in gegenseitigem Kontakt stand, ist durchaus erstaunlich. („‚Wir wollen euch nicht hier haben‚ und ‚Ihr werdet schon sehen, was passiert‘, teilte man ihnen mit. Absender unbekannt.“) Ausgerechnet damit den Printtext zu betiteln – gewagt. Noch gewagter ist es jedoch, den Stadtteilladen Lunte ohne echte Hinweise indirekt in Verbindung zu diesem Drohbriefen zu setzen.
In einem Telefongespräch hat die Autorin des Artikels zwar Stellung zu ihrem Recherchevorgehen bezogen, der Veröffentlichung ihrer Zitate aber nicht zugestimmt.
„Kiez-Miliz“ zeigt sich amüsiert
Ähnlich ungenau verhält es sich mit den Hinweisen zu den vermeintlichen Stimmungsmachern alias der „Kiez-Miliz“. Die Lunte, als Stadtteil- und Infoladen Treffpunkt von verschiedenen linken Gruppierungen, wird als Anlaufstelle der „Kiez-Aggressoren“ dargestellt („Die Hetze und die Bedrohungen aus dem Umkreis der Lunte zeigen bereits Wirkung“) und die Gruppierung ZK Berlin als Hauptinitiator der „Mobilmachung“ benannt. Allerdings liegt der Einschätzung Wagners auch hier kein Gespräch mit den Beteiligten der Lunte zugrunde und alle zur ZK zitierten Personen wollen anonym bleiben. Als einzige identifizierbare, jedoch nicht namentlich genannte Quelle, werden Aussagen von der Hummel Antifa Berlin aufgeführt. Dass diese Antifa-Gruppierung ihrerseits recht merkwürdige und extreme Ansichten auf ihrer Internetpräsenz publiziert, spricht nicht unbedingt für die Seriosität der Quelle. Vom „ganz normalen islamischen Alltag“ ist in einer der Ankündigungen der Veranstaltungsreihe „Die Niederlage des Denkens und der Islam“ die Rede. Mit „Ehebruch, Ehrenmord, Zwangsverheiratung und die Unterdrückung von Frauen“ geht es weiter.
Bei der ZK hingegen sieht man das Ganze sehr gelassen. „Wir haben darüber gelacht.“ Keiner im Kiez habe das ernst genommen, man habe eher Witze über Ausweiskontrollen gemacht. Es wird zwar eingeräumt, dass es sein könne, dass das ein oder andere Mitglied mal jemanden angepöbelt und über die Stränge geschlagen habe, aber das sei niemals von der ZK in irgendeiner Weise propagiert oder gesteuert gewesen. Die ZK hat derweil mit ganz anderen Problemen zu kämpfen: Ihren Internetauftritt gibt es nämlich doppelt, mit der Endung .tk und .org. Der eine (.tk) ist der eigene Auftritt, der andere (.org) sieht zwar fast identisch aus, sei aber ein Fake, um die Gruppe zu diskreditieren.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Drohungen und Stimmungsmache gegen Zugezogene, Touristen und Studenten durchaus existent sind im Schillerkiez (und nicht nur dort – siehe „Kiezkiller“, „Berlin doesn’t love you“, etc.). Darüber sollte man auch berichten. Aber mit Ungenauigkeiten, mangelnder journalistischer Sorgfalt und einem, der Kiez-Stimmungsmache bezüglich Polemik in nichts nachstehenden Ton, die Vorfälle zu thematisieren, ist außer skandalträchtig nur kontraproduktiv.
Der Artikel nimmt einer gemäßigten Debatte die Chance geführt zu werden, bevor sie überhaupt begonnen hat, macht die Angefeindeten in seiner Übertreibung lächerlich und spielt letztlich nur denen in die Hände, die Menschen von außen nicht in ihrem Kiez sehen wollen. Wer DIE eigentlich sind, was die Beweggründe für ihren Ärger und ihre Agressionen sind, und wie viele DIE überhaupt sind, um sich sagen zu trauen, ‚WIR wollen Euch hier nicht haben‘, das alles lässt der Text außen vor.
Deshalb würden wir gerne von EUCH als Leser wissen, wie IHR dazu denkt oder Eure Erfahrungen zum Thema sind?
Kommentare:
Ich lebe seit einem halben Jahr im Schillerkiez, klassischer Student und Künstler aus Bayern. Mein Fazit: Ich fühle mich in meinem Haus und meinem Kiez wohl, hänge im Syndikat genauso gerne rum wie im Bechereck und bin in beiden Lokalitäten noch nie blöd angemacht worden…
Aufmerksam durch die Straßen gehen und die Parolen an den Häusern lesen, das sagt schon viel aus über das Klima hier.
Was sagen denn die Besitzer des Circus Lemke, Frollein Langner und Engels dazu?
Ich mag den Schillerkiez und fühle mich wohl dort und ich denke, dass das den meisten die dort leben genauso geht. Mit der „Kiez-Miliz“ ZK hab ich nchts zu tun und kann deswegen nichts über sie sagen, aber ich kenne die Lunte als gemütlichen Ort, wo man gemütlich bei einem Bier lecker VoKü schlemmen kann. Alles in allem kann ich den Tip-Artikel nicht nachvollziehen, scheint so als würden da politische Unstimmigkeiten der Autorin mit der Lunte auf dem Weg in die Öffentlichkeit ausgetragen. Ernstzunehmen ist das Ganz aber nicht, der Tip ist ja glücklicherweise kein Medium, dass besondere politische Tragweite hat.
Auch wohne im Schillerkiez und wohne gerne hier. Ich weiß nicht, von welchen Phantasien die Autorin im Tip heimgesucht wurde, vielleicht war sie so „antideutsch“ inspiriert, dass sie dafür ihre journalistische Integrität aufs Spiel zu setzen bereit war.
Die erwähnte Gruppe ZK ist zwar – Verzeihung – politisch vollkommen durchgeknallt, aber Kiezkontrollen? So ein Quatsch!!! Die Lunte als Zentrum der Gewalt im Schillerkiez? Fressen die am Ende nicht sogar kleine Kinder, die sie arglosen Müttern aus den Kinderwagen rauben? Solchen Unsinn quasseln vielleicht die Schreiberlinge des Boulevard so herunter, um die Hausfrauen in Spandau zu erschrecken, aber mit der Realität hat das nichts zu tun.
Ich selber gehe gerne zur Vokü und zu den Stadtteilversammlungen, da kann man die Leute aus der Lunte auch treffen und sich selbst davon überzeugen…
Die Einschätzung, dass die Autorin vermutlich hier ihren antideutschen Zwist mit dem ZK ausgetragen hat und dabei die Grenzen der Seriösität überschritten hat, teile ich voll und ganz
Wenn man nix über die Kiez-Miliz weis dann ist ganz einfach etwas in Erfahrung zu bringen in dem man auf ihre Seite geht: http://zk-berlin.bplaced.net/
Da stehen viele Interessante sachen die die Leute nicht so wirken lassen als seien sie „politisch völlig durchgeknallt“ wie mein Vorredner so schön pauschal meinte. Eher junge Leute die sich nen Kopf machen. Haben zum Beispiel auch einen sehr schönen Artikel über Neukölln und die real stattfindende Verdrängung geschrieben siehe http://zk-berlin.bplaced.net/?p=1411
Also durchgeknallt sieht anders aus.
Naja,
Das es in dem Artikel nicht um die Gruppe Zusammen Kämpfen [Berlin] geht ist offensichtlich, auch wenn ein bahamas-Artikel siehe
http://redaktion-bahamas.org/aktuell/20110804zk.html
etwas anderes vermuten lässt. Worum es hier geht ist der mediale Soundtrack zur Kriminalisierung von „autonomer“ Stadtteil-Arbeit, was immer mensch auch gerne darunter versteht. In dem Artikel wurde ja nicht nur die Gruppe „ZK“ denunziert, sondern auch andere. Über den Besuch und die Einschüchterungen derjenigen die dieses Verfasst haben mit 50 Leuten am 6.Februar 2011 abends vor der Lunte steht da ja nichts drinne.
Qui paye la violon choisit la musique