Text: Sabine Künzel
„Hier wollte sich niemand aufhalten, war ja immer alles vollgeschissen“, so die Antwort meines Vaters auf die Frage nach der Atmosphäre auf dem Richardplatz in den 1980er Jahren. Ich schlendere an einem kalten, sonnigen Wintertag mit meinen Eltern über eben diesen und genieße den Trubel. Es sind viele Spaziergänger unterwegs, die Sonnenstrahlen beleuchten die alte Schmiede und tauchen den malerischen Platz in ein warmes Licht. Schwer vorstellbar, dass das vor über 20 Jahren nicht so gewesen sein soll. Bis zum Jahr des Mauerfalls haben wir hier gewohnt, am Richardplatz 5 in 1000 Berlin 44. Das Haus, in dem der Louis jetzt drin ist.
„Das war hier nichts weiter als eine Verkehrsinsel. Mit Ausnahme von ein paar vereinzelten Hundebesitzern war der Ort recht verlassen“, ergänzt mein Vater. Lediglich ein paar Meter weiter Richtung Karl-Marx-Platz, hinter dem Tempel mit den „damals besten Pommes der Stadt“, da hätten die Berufsalkoholiker gesessen. Und der Spielplatz? „Miefig, ungepflegt, voller Hundehaufen.“ Die alte Schmiede? „Erst in den 80ern wieder saniert worden, vorher ebenfalls heruntergekommen.“ Der Rixdorfer Weihnachtsmarkt? „Na gut, der war damals auch schon so gefragt wie heute.“ Meine Mutter stöhnt, wenn sie sich daran erinnert, wie sie mit dem Kinderwagen versucht hat, überhaupt aus der Haustür herauszukommen.
Wir haben zwei Balkone: den böhmischen und den deutschen
Der Richardplatz bildet den historischen Kern Neuköllns. 1360 wird Richardsdorp gegründet, im Jahre 1724 zählt es 224 Einwohner. Der zentrale Platz des Dorfes wird von zahlreichen alten Gebäuden gesäumt, wie z.B. der Bethlehemskirche (auch Rixdorfer Dorfkirche genannt). Richardsdorp wird umbenannt in Rieksdorf, doch dabei bleibt es nicht lange. Als sich 1737 protestantische Glaubensflüchtlinge aus Böhmen in der Gegend ansiedeln, wird aus Rieksdorf „Böhmisch-„ und „Deutsch Rixdorf“. Beide Gemeinden besitzen eine eigene Verwaltung, der Richardplatz gehört zu der deutschen.
Diese Unterteilung, die seit der Zusammenlegung der beiden Dörfer 1874 nicht mehr existiert, wird in den 1980er-Jahren in unserer Wohnung rege aufrecht erhalten. Wir haben zwei Balkone, den böhmischen und den deutschen. Ersterer ist der Nordbalkon Richtung Kirchgasse, letzterer der Südbalkon zum Richardplatz hinaus. Auf diesem sitze ich gerne und beobachte Cleopatra. Cleopatra hat wasserstoffblonde auftoupierte Haare, grell geschminkte Lippen und immer Hund und Mutter im Schlepptau. Ihre Mutter sieht genauso aus, von weitem kann man die beiden nicht auseinanderhalten. Natürlich heißt sie nicht Cleopatra, so nennen nur die Anwohner sie, auf Grund ihrer Frisur. Ihren richtigen Namen weiß aber niemand. „Bekannt wie ein bunter Hund war das Gespann, vom Richardplatz nicht wegzudenken“, erinnert sich meine Mutter.
Familienbetriebe und kleinbürgerliche Piefigkeit
Ein Hauch von „60er-Jahre West-Berliner“-Flair und kleinbürgerlicher Piefigkeit hängt damals über Rixdorf. Dort, wo heute Louis seine Riesenschnitzel brät, befindet sich derzeit das Möbelgeschäft „Fritz Mattwe“. Im Schaufenster bewundert man Gelsenkirchener Barock, ein Zeugnis der Sehnsucht nach deutscher Gemütlichkeit. Der Laden läuft, die Neuköllner investieren viel Zeit, Arbeit und, wenn möglich, Geld, in die Ausgestaltung ihrer vier Wände. Die Mietwohnung ist nun mal das Eigenheim des Berliners.
historische Aufnahmen vom Richardplatz, 1900 – 1986
Gegenüber, auf dem Gelände am Richardplatz 18 ist das Fuhrunternehmen Schöne ansässig. Seit 1894 fährt der Familienbetrieb zunächst Ärzte zu ihren Patienten, später werden die Kutschen vor allem für Hochzeitsfahrten genutzt. Das Unternehmen existiert auch heute noch, mittlerweile in fünfter Generation. Auf dem Hof kann man sowohl historische Kutschen besichtigen als auch Kunsthandwerk kaufen. Kutschen sieht man kaum noch über den Richardplatz rollen – in meinen Kindertagen ist das anders: Sobald ich Hufgeklapper höre, stürme ich auf den „deutschen“ Balkon und starre wie gebannt auf die Straße. Ab und an darf ich auch mal mitfahren und möchte gar nicht mehr aussteigen.
Die eigentlichen Neuerungen liegen oft im Verborgenen
Eine weitere Faszination übt damals ein herrschaftliches, villenartiges Gebäude zwischen der Schudoma- und der Hertzbergstraße aus, Hausnummer 24. Hier lebt Rechtsanwalt und Generalkonsul Stegenwallner. Mehr weiß man auch nicht über ihn, die Anwohner des Richardplatzes munkeln, dass er Konsul irgendeiner „südamerikanischen Bananenrepublik“ ist. Wir bleiben auf dem Weg zum Kindergarten oft davor stehen und stellen uns vor, wie es wäre, darin zu wohnen. Das flache Bauwerk verdeutlicht die Besonderheit des Richardplatzes: Umgeben von den typischen hohen Berliner Altbauten befinden sich hier noch historische, flache Häuser – die älteste Bausubstanz Neuköllns.
Weil viele Bauwerke heute unter Denkmalschutz stehen, hat sich der Platz äußerlich nicht gravierend verändert. Die eigentlichen Neuerungen liegen oft im Verborgenen, wie das Gelände des Fuhrunternehmens Schöne. Neben den Ställen befinden sich auf dem riesigen Areal mittlerweile unzählige Garagen, die man mieten kann, sowie – eine Leichenhalle. Wer auf dem Gottesacker in der Kirchhofstraße begraben wird, findet seine vorletzte Ruhe auf dem Hof von Schönes. Auch Muslime können hier ihre Verblichenen waschen und festlich herrichten lassen. Beerdigungen werden aber von einem richtigen Bestattungsinstitut durchgeführt.
Im Gegensatz zu früher ist der Richardplatz heute belebt
An diesem sonnigen Wintertag, an dem wir eine kleine Reise in die Vergangenheit unternehmen, fühlt es sich fast so an, als wäre die Zeit stehengeblieben. Die alte Schmiede ist nach wie vor in Betrieb, Hundehaufen schmücken den Spielplatz und die Berufsalkoholiker sind an Ort und Stelle. Lediglich eine City Toilette zerstört die vertraute Kulisse ein wenig.
Aber im Gegensatz zu früher ist es belebt. Der Richardplatz ist zu einem angesagten Treffpunkt geworden. Die voranschreitende Veränderung der Mieterstruktur in ganz Neukölln hat den piefigen 60er Jahre West-Berliner Charme vertrieben und Rixdorf über Berlin hinaus bekannt gemacht. Dass nicht jeder davon profitiert, steht außer Frage. Auch hier hat die Gentrifizierung ihre Spuren hinterlassen und das Quartiersmanagement Richardplatz Süd hat alle Hände voll damit zu tun, die sozialen Probleme im Kiez zu bekämpfen. Doch in diesem Augenblick nehmen wir nicht wahr, was im Verborgenen liegt.
Und als wir vor der Villa von Rechtsanwalt und Generalkonsul Stegenwallner stehen und erfreut anhand des Klingelschildes feststellen, dass er dort immer noch wohnt, kommt uns eine Gestalt mit Hund entgegen. In ihren Bewegungen liegt etwas Vertrautes, ihre blondierten Haare leuchten ebenso wie der grelle Lippenstift. Sie läuft direkt auf uns zu, unsere Blicke treffen sich, ein Flackern in ihren Augen und ein Zucken um die Mundwinkel lassen erahnen, dass sie uns erkennt. Cleopatra lächelt, läuft weiter, biegt um die Ecke und ist verschwunden. An diesem Tag am Richardplatz ist fast alles wie früher.
Die Bilder zu unserem Spaziergang
Archivmaterial © Museum Neukölln
In Zusammenarbeit mit dem Geschichtsspeicher des