Als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich immer wieder Ohrenschmerzen und weinte nachts. Das Zaubermittel meiner großen Schwester: Sie cremte meine Ohren mit Zahnpasta ein. Das half zumindest meiner Seele, und ich schlief wieder ein.
So ist das mit dem Wachschutz und der Bibliothek: Dass da jetzt – erstmal probeweise – ein paar junge schmucke Wachschützer stehen, wird die Bibliothekarinnen beruhigen, befriedigt merken sie, dass sich endlich mal jemand um sie kümmert.
Nicht der erste Hilferuf
Es ist nicht ihr erster Hilferuf. Sie beklagen seit mindestens 15 Jahren ihre Arbeitssituation, die durch die gleichen Probleme erschwert wird – auch in den Details (wobei Kenner der öffentlichen Bücherparadiese wissen, dass Bibliotheken tolle Orte zur Begegnung von Geschlechtern sind). Und jetzt versuchen sie es mit einem „Rütli-Brief“ und dem Weg in die Öffentlichkeit, weil sie keinen Hoffnungsschimmer von Hilfe der Verantwortlichen am Horizont sehen.
Es gibt Probleme ganz unterschiedlicher Art in der Bibliothek – die allesamt mit Zahnpasta in Form von Wachschutz nicht zu erledigen sind.
Die objektiven Probleme:
- Es gibt nur eine einzige Bibliothek in dem dichtest besiedelten Nordneukölln, wo sehr viele Menschen wohnen, die dringend öffentlichen Zugang zu Büchern und Medien brauchen und wollen. Es macht keinen Sinn, über Leseprobleme und Bildungsnotstand zu jammern, wenn viel zu wenig „Futter“ angeboten wird – für Kinder und Jugendliche, für Studenten, für Hartz IV-Empfänger für Rentner: Wir wissen, dass in Neukölln viele arme Menschen leben, und viele, die dringend mit deutscher (und vielen anderen!) Sprachen umgehen wollen und müssen. Aber der Bezirk schuf nicht neue Standorte, sondern reduzierte sie, bis Neukölln am Ende der Berliner Ausstattung stand (während der Gutshof Britz sich zu neuen ästhetischen und investiven Höhen schwang).
- Es gibt zu wenig Personal. Das ist ein Problem in allen öffentlichen Bibliotheken, das in Neukölln (inklusive eines sehr hohen Krankenstandes) besonders katastrophal ist. Leseberatung kann kaum gemacht werden. Im Unterschied zum Bezirk Neukölln hat dort die vielberufene „interkulturelle Öffnung“ überhaupt noch nicht stattgefunden, und das Personal ist komplett weiblich und weiß. Und sehr bildungsbürgerlich. In vielem erinnert die Gegenwart an die 20er Jahre, als sich die – auch damals weiblichen bürgerlichen Bibliothekarinnen (höhere Töchter) gegen die Proleten wandten, die nun in die Bibliotheken kamen – was erklärter Wille der SPD- und KPD-Politiker in Neukölln war -, weil sie ihnen angst machten, sich ungebührlich und respektlos benahmen, unverschämte Fragen stellten und unangemessene Bücher wollten.
- Die Bibliothekarinnen heute haben auch Angst, berechtigter- oder unberechtigterweise. Es gab vor circa 10 Jahren im Rahmen eines Genderprojektes ein Verhaltenstraining, und da erwies sich als der beste Hinweis, dass alle Bibliothekarinnen eine Trillerpfeife griffbereit haben sollten und damit sofort Hilfe holen können. Das half wirklich, benutzt wurde sie kaum, aber es vermittelte ein Sicherheitsgefühl.
- Es gibt viel zu wenig interessante Treffpunkte für Kinder und Jugendliche in Nord-Neukölln, die gerne und ohne viel Aufsicht genutzt werden können, vor allem im Winter. Ein Einkaufszentrum mit einer Bibliothek, in der es nicht so übersichtlich ist (das ist wohl in allen Bibliotheken der Fall!), in der Kontrolle nicht ganz oben steht, ist da natürlich ganz toll. Natürlich steht bei einer solchen Nutzung die gesittete Nutzung und Rücksicht auf andere nicht ganz oben auf der Agenda.
Die Helene-Nathan-Bibliothek hat aber auch Stärken:
- Sie ist eine der schönsten Berliner Stadtbibliotheken.
- Sie hat einen nicht hinreichenden, aber nicht schlechten Medien- und Technikbestand, und man kann dort lesen und arbeiten.
- Die Bibliothek ist ein Ort, wo man sich ohne große Barrieren gut treffen kann, auch Männlein und Weiblein. Gerade auch streng limitierte junge Mädchen dürfen dort hin, auch ohne Aufpasser. Sie unterscheidet sich damit von den meisten anderen öffentlichen Orten Neuköllns. Wenn der Wachschutz kommt, ist die Barrierefreiheit zugunsten von Kontrolle möglicherweise dahin.
- Mithilfe des Quartiersmanagements gibt es tolle Angebote für Hausaufgabenhilfe in Lernzentren für Schüler, die in Neukölln dringend gebraucht werden.
Und was wäre die beste Zukunftsempfehlung:
- Mehr solche Orte schaffen, die spannend und schön sind.
- Öffentlichkeit hereinholen, also mehr Leser. Die gegenseitige Achtsamkeit der Nutzer schützt.
- Die Personalausstattung entscheidend verändern und damit verbessern: In den Ängsten der Mitarbeiterinnen drückt sich natürlich die Hilflosigkeit im interkulturellen Kontakt, wobei damit nicht nur der multiethnische Aspekt gemeint ist, aus; auf jeden Fall sollte die Gendermischung besser als jetzt stimmen. Und es sollten nicht Aufpasser sein, sondern Menschen, die unterstützen, nicht verbieten, sondern kommunizieren.
- Interkulturelles Training wäre von Nutzen ebenso Mediationskenntnisse.
- Aber schlimmer als alles andere ist das Gefühl des Alleingelassen seins. Die Neuköllner Politik hat sich lebhaft um die Musikschule gekümmert – aber dort, wo es um die grundlegende Voraussetzung von Integration geht, um Sprache, hat sie weggesehen.
Als Leiterin des Amtes für Kultur und Bibliotheken, die ich bis 2012 war, verbrachte ich viel Zeit mit diesem Bibliotheksproblem, andere auch. Es gab großartige Modellprojekte, die mit der kulturellen Vielfalt Neuköllns als Potential arbeiteten. Es wurde auch – gemeinsam mit dem sehr engagierten QM Flughafenkiez – erwogen, mit einer Container-Lösung Aufenthaltsmöglichkeiten für Jugendliche auf dem unternutzten Parkdeck zu schaffen.
Das Centermanagement war an den Gesprächen beteiligt, aber es verlief sich alles im Sande. Und die Rahmenbedingungen waren ein toller Vorwand, nichts zu ändern. Denn Geld und Fantasie wurde nicht aktiviert – die brauchte man ja auf Berliner Ebene, um ein Bibliothekszentrum auf dem Tempelhofer Feld zu konzipieren. Bei aller räumlichen Nähe – Neukölln und seinen Bibliotheksnutzern hätte es nicht genutzt.
Und nun probiert man es mit Zahnpasta: Wachschutz ist die einfachste Schein-Lösung, die aber den Ort Bibliothek beschädigt.
Unser Autor Philipp Fritz hat sich in der Helene-Nathan-Bibliothek erst kürzlich für die Berliner Zeitung umgesehen. Hier seine Reportage.