Späti-Dialog: „Es geht um unsere Existenz!“

20150709_205637 Ein erster Schritt der Verständigung: Am gestrigen Abend trafen die Verantwortlichen von Polizei und Ordnungsamt auf die Spätkaufbetreiber Nord-Neuköllns. Thema: Die verschärften Kontrollen an den Wochenenden.

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Freitag, 10. Juli 2015

„Ich habe 9 Kinder zu ernähren. Wenn sie uns weiterhin so stark kontrollieren, können wir alle dicht machen! Ich habe keine Lust, mein Geld vom Arbeitsamt zu bekommen! Wir wollen hier alle arbeiten, aber so geht es nicht mehr weiter.“ Ein Spätkaufbetreiber von der Sonnenallee macht seinem Ärger Luft. In der Parteizentrale von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neukölln wird am Donnerstagabend schnell klar, dass es um nichts weniger als die Existenz der Kioskbesitzer geht.

Und alle sind sie da

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Alper Baba, Besitzer des Karl-Marx-Straßen-Spätis „Bei Baba“

Die Grünen-Abgeordneten Anja Kofbinger und Susanna Kahlefeld haben zum Dialog geladen und alle sind sie gekommen: Vom Polizeichef der Direktion 54, Herr Richter, bis zur stellvertretenden Leiterin der Zentralen Anlauf- und Beratungsstelle des Ordnungsamtes in Neukölln, Frau Stein über den Stadtrat für Soziales, Bernd Szczepanski. Kofbinger stellt zu Beginn der Veranstaltung die Diskutanten des Podiums vor. Schließlich kommt sie bei einem Mann in Polizeiuniform an. „ Herrn Ruf muss ich ihnen wahrscheinlich nicht mehr vorstellen“. Das Gelächter im Raum ist groß. Den Sheriff muss man den Neuköllner Spätibetreibern wahrlich nicht mehr vorstellen. Man kennt sich eben. Die Stuhlreihen in der grünen Parteizentrale sind voll besetzt. Entschieden wird heute Abend nichts, das ist allen Anwesenden bewusst. Es gibt viele ungeklärte Fragen, Ängste, Vorwürfe – und die gilt es heute Abend endlich anzusprechen.

Warum nur die Spätis? Warum nur in Neukölln?

„In anderen Bezirken kontrolliert weder die Polizei noch das Ordnungsamt die Spätkäufe. Niemand interessiert sich dafür. Nur hier in Neukölln wird systematisch kontrolliert!“ Peter Brinkmann bringt das auf den Punkt, was viele im Raum denken. Er hat über Wochen hinweg die Spätikontrollen in seinem Block (Kottbusser Damm Ecke Hobrechtstraße) aufgezeichnet und meint, eine Systematik hinter den Anzeigen erkennen zu können. „Des Weiteren spielt der Ton die Musik“, meint der ehemalige Polizist Brinkmann. „ Wenn ich damals zu einem Bürger gesagt hätte, dass er zu Recht Angst vor mir hat, hätte ich ein Disziplinarverfahren bekommen.“ Der Seitenhieb Richtung Sheriff kommt bei Neuköllns Spätibetreibern gut an – sie applaudieren. Alper Baba, Besitzer des Karl-Marx-Straßen-Spätis „Bei Baba“, erhebt sich: „Warum dürfen Tankstellen an Sonntagen geöffnet haben und wir müssen schließen? Sie verkaufen das Gleiche wie wir, nur doppelt so teuer.“

Bei Anzeigen wird nicht gelächelt

Polizeidirektionschef Richter erklärt, dass es keine systematischen Kontrollen gäbe. „Sie können mir glauben, dass uns für systematische Kontrollen das Personal fehlt. Aber es ist doch selbstverständlich, dass ein Polizist, wenn ihm Regelverstöße bei einem Spätkauf auffallen, wiederkommen wird, um zu kontrollieren, ob sich etwas an den Öffnungszeiten des Ladens geändert hat. Sie werden auch keinen Polizisten erleben, der ihnen lächelnd eine Anzeige überreicht und Bußgelder von ihnen verlangt“, meint Richter und spricht die viel beklagte Unfreundlichkeit und Aggresivität der Beamten an. „Zu meiner Frau sagte ein Polizist, man sieht dass sie keine Christen sind“, berichtet Spätibetreiber Kamuran Güzel. Herr Richter nimmt diesen Vorwurf gelassen: „Wenn es solche Vorfälle gibt, müssen sie zur Anzeige gebracht werden. Vorher können wir nicht auf solche Vorwürfe reagieren. Uns sind derzeit keine Diskriminierungsvorfälle bekannt.“ Dass sich so mancher Beamter Neuköllns des Öfteren im Ton vergreift, ist an diesem Abend kaum zu überhören. Ein weiterer Spätkaufbetreiber wird laut und sagt: „Wissen sie, wir wissen alle, dass wir in Deutschland leben und zahlen unsere Steuern ans deutsche Finanzamt. Wir sind es leid, ständig zu hören, dass in Deutschland deutsches Recht gelte. Welches Recht denn sonst? Das wissen wir. Solche Belehrungen sind erniedrigend.“

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Spätibetreiber Kamuran Güzel

Frau Klein vom Ordnungsamt rutscht genau dieser Satz wenig später wieder raus: „Wir leben hier in Deutschland. Deutschland funktioniert nun mal so.“

Der Sheriff hat teilweise große Probleme, den Spätibetreibern das Wort einzuräumen. Man merkt ihm sein Unverständnis an. Gesetz ist nunmal Gesetz. Das gilt für jeden. Als ihn die Spätibetreiber darauf hinweisen, dass in Tankstellen unerlaubter Weise Pizzen verkauft werden, meldet sich Herr Ruf zu Wort: „Dann werde ich die mal kontrollieren müssen!“

Neukölln ohne Spätikultur – unvorstellbar.

Alle Anwesenden des Podiums machen eines klar: Die Beamten von Polizei und Ordnungsamt halten sich nur an die Gesetze. Seitdem die Kirchenverbände 2009 vor dem Bundesverfassungsrecht geklagt haben, gilt: Spätis dürfen nicht an Sonntagen öffnen. Daran würde auch kein neuer Gesetzesentwurf im Berliner Abgeordnetenhaus etwas ändern. Aber: Es gibt Schlupfwinkel, und diese gilt es auszutesten. „Geschäfte, die Touristenbedarf anbieten, dürfen auch an heiligen Feiertagen geöffnet haben“, erklärt Anja Stein vom Ordnungsamt. Die Liste der Artikel, die in solchen Läden verkauft werden dürfen, ist jedoch sehr intransparent. Es gilt zu klären, inwiefern man eine solche Liste erweitern könne, sodass auch die Spätkaufbetreiber unter die Sonntags-Ausnahmeregel fallen.

Sozialstadtrat Szczepanski (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erklärt: „Neukölln ohne Spätis ist kaum vorstellbar. Das ist ein großer Wirtschafts- und Kulturfaktor in unserem Bezirk. „Es gilt nun herauszufinden, was man für die Spätkaufbetreiber tun kann. Sowohl bei den Öffnungszeiten und Verkaufsangeboten der Tankstellen als auch bei den Artikellisten der Tourismusbedarfsgeschäfte, kann man von gesetzgebender Seite sicherlich etwas unternehmen.“

„Herr Ruf, sie haben es uns versprochen!“

Stadtrat für Soziales, Bernd Szczepanski (Grüne)

Stadtrat für Soziales, Bernd Szczepanski (Grüne)

Der Späti-Dialog verläuft mit wenigen Ausnahmen sehr friedlich ab. Die Betreiber sind froh, ihre Sorgen äußern zu können. Sie alle erwarten, dass sich etwas tut in Neuköllns Spätipolitik. Viele Fragen bleiben offen. Warum wird in Neukölln mehr kontrolliert als in anderen Bezirken? Entweder machen die Ordnungshüter in anderen Bezirken ihren Job sehr schlecht oder Neuköllns Polizei ist doch nicht so ausgelastet wie in vielen Fällen beteuert. Wieso macht das die Polizei überhaupt – sollten sich die Beamten nicht um „echte Kriminelle“ kümmern, raunt es immer wieder. Eines ist sicher: Dies war nicht der letzte Spätidialog, der in Neukölln zu führen sein wird. Dafür ist das Thema zu wichtig für die Existenz vieler Einzelhändler. Spätibetreiber Baba ergänzt: „Wir Spätkaufbetreiber müssen uns jetzt organisieren. Nur gemeinsam können wir was erreichen. Ich kann nur jedem, dem etwas an Neuköllns Spätis liegt, raten, die Spätipetition zu unterzeichnen.“ Die hat mittlerweile rund 30.000 Unterschriften. Als der Sheriff die Parteizentrale verlässt, ruft ein Spätibetreiber ihm zu: „Kontrollieren sie die Tankstellen und die Falschparker in der zweiten Reihe. Herr Ruf, sie haben es uns versprochen!“ Der Sheriff hat eine neue Mission.

 

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