Text: KMM
So recht weiß man nicht, was passieren wird, als man mit einem Band um den Hals, somit als Zuschauer gekennzeichnet, im Übergang von U-Bahnhof zum Kaufhaus steht. Ein Hase (Nicky Vanoppen) rennt durch die Menge und Alice (Antje Rose), eine Mittvierzigerin auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch, betritt die „Bühne“. Durch die Katakomben des Kaufhauses, vorbei an blinkender Weihnachtsdekoration, beginnt die Reise durch die bunte Welt des Einzelhandels – dem Wunderland mit all seinen Verlockungen und menschlichen Abgründen.
Aufgeblasene Prozentzeichen
Während des regulären Verkaufsbetriebs, zwischen Osterschmuck und Schnäppchen, legt die Gruppe kleine Stopps ein. Es sind kurze Sequenzen, die in ihrer betitelten Szenenabfolge dicht an Carolls „Alice im Wunderland“ arbeiten. Inhaltlich lassen sie in einer ironischen Opposition zum Spielort eine gelungene Konsumkritik verlauten: Die Diktatur ist der Konsum und keiner kann sich davor bewahren. Alice im Wunderland ist professionell choreographierte Bewegung. Wenn einzelne Orte zum Schauplatz werden, lohnt es sich, den Blick nach links und rechts zu wenden. Unterhaltsam sind nicht nur die Gesichter der Schaulustigen, sondern vor allem die konditionierten Bewegungsabläufe der Nebendarsteller, wenn Verkäuferinnen in ihrer synchronen Selbstverständlichkeit beispielsweise mit aufblasbaren Prozentzeichen tanzen.
Überspitzte Unmittelbarkeit
Der Schritt in den regulären Verkaufstag als Zuschauer einer Performancegruppe ist absurd. Die Unmittelbarkeit des Theaters wird damit überspitzt und der Rezipient zum beobachteten Objekt. Während man dicht auf Alice Fersen durch die Abteilungen schreitet, ist das Gefühl ein ganz eigenes. Es kommt zu einer neuen Art der Reizüberflutung. Alice Kaufwahn, bei der die Tüten sich in ihren Händen rasant vermehren, überträgt sich auf den Zuschauer. Naiv kleptomanisch würde man am liebsten eine Flasche Apfelsaft aus dem Regal greifen oder ein paar Pralinen naschen, vielleicht noch das ein oder andere T-Shirt einstecken. Denn die Grenze zwischen Protagonist, Konsument und Alices Gefolge ist nicht erkennbar: Was gehört dazu? Wer gehört dazu? Welche Rolle spiele ich überhaupt? So werden alle ein wenig zu Alice und die Menge rund um die Performancegruppe wird immer größer. Die Leute schauen sich um, gehen mit, sind verwirrt, belustig oder genervt: „Ich bin hier nur Verkäuferin“, sagt eine Karstadt-Mitarbeiterin.
Die richtige Dosis
Alice im Wunderland ist glänzender Humor, der Schauplatz Karstadt schlichtweg konfus. Antithetisch stehen sich Inhalt der Performance und Spielstätte gegenüber. Als Zuschauer wird man in einen Zustand der Halluzination versetzt: Wer bin ich? Was denke ich? Choreograph Martin Stiefermann und seine Gruppe um MS Schrittmacher zeigen mit diesem Szenario ein Gespür für die richtige Dosierung von Witz, Übertreibung und Dynamik – ohne auch nur ansatzweise platt zu wirken.
Hier ein kurzer Trailer zur Alice im Wunderland Performance: