„Ich sehe mich nicht als Bewohnerin des Schillerkiezes – den Namen gibt es überhaupt erst seit ein paar Jahren – und auch nicht unbedingt als Bewohnerin von Neukölln. Ich lebe in Berlin und bewege mich überall. Dieses Kiezbewusstsein ist erst vor etwa 15 Jahren entstanden und hat mich nie interessiert – ich wollte weiter als bis zur Eckkneipe; ich lebe in einer Großstadt und nicht auf dem Dorf. Aber seitdem ich spüre, dass es so ein Art Vereinnahmung gibt, muss ich mich jetzt auch irgendwie als Neuköllnerin positionieren.“
Eleonore F. (Name auf Wunsch geändert) lebt seit 1978 hier im Viertel, seit 35 Jahren in derselben Wohnung. Eine Ein-Zimmer-Wohnung ohne Dusche, aber mit Innentoilette. „98 Mark hat die damals gekostet.“ Doch seit gut einem Jahr geht ihr eines ziemlich auf die Nerven, beschäftigt sie und macht sie teilweise auch richtig wütend: junge Menschen.
Sie sehe sich nur noch von jungen Leuten umgeben. Bei allem, was an Neuem auf sie zukomme, z.B. neuen Cafés, Bars und Imbissen, fühle sie sich als älterer Mensch ausgegrenzt. „Klar, niemand verbietet mir in so ein Café zu gehen, aber meistens fühle ich mich dann auch nicht so wohl. Ich hab‘ gerne eine bunte Mischung, aber das ist eine Welt für sich. Das hebt sich inzwischen so ab, dass eine richtige Kluft entsteht, und das nenne ich dann Parallelgesellschaft.“
Alles da, was die Neu-Neuköllner brauchen
Alt wirkt Eleonore nicht. Was heißt das schon: „alt“? Dass sie die 50 mittlerweile überschritten haben dürfte, sieht man ihr schon an, aber sie sitzt eben nicht zu Hause „hinterm Ofen“, wie sie es ausdrückt. Sie geht gerne raus, interessiert sich für Kunst, ist bei den beiden Kunstfestivals „48 Stunden Neukölln“ und „Nachtundnebel“ unterwegs und besucht Galerieeröffnungen. Aber auch dort fällt sie mittlerweile aus dem Rahmen, steht einer absoluten Übermacht junger Menschen gegenüber. Bei einer Ausstellung wollte sie gleich jemand interviewen: „Weil ich die einzige Frau älter als 35 da war. Was ich denn hier zu suchen habe, so ungefähr.“
Was sich da entwickle, habe mit der ursprünglichen Bevölkerung gar nichts mehr zu tun. Neu-Neuköllner nennt sie die jungen und hippen Zugezogenen. „Jetzt ist fast alles da, was die Neu-Neuköllner so brauchen in ihrer Infrastruktur. Und nur da bewegen sie sich, da gibt es eigentlich kaum Berührungspunkte. Ich hab‘ das schon vor ein paar Jahren gesehen, dass wir bald dran sind, aber das ging so schnell und im Laufe des letzten Jahres ist das richtig übergeschwappt. Das ist mittlerweile wie eine Art Besetzung.“
Eleonore nippt an ihrem Cappuccino und lacht. Ein verbittertes Lachen klingt anders, ihres hört sich eher nach Belustigung, gepaart mit Ungläubigkeit und Staunen an. Eine Spur von Ohnmacht aber lässt sich darin nicht leugnen. „Hier ist alles grad‘ hip und so toll authentisch, und die ursprünglichen Neuköllner oder die älteren Menschen werden überhaupt nicht wahrgenommen. Wir sind nur noch die Kulissen für Neukölln-Geschichten.“ Und selbst wenn sie an Neu-Neukölln teilhaben wollte: Viele Sachen könne sie sich einfach nicht leisten.
Abenteuerspielplatz für junge Leute
„Ich bin Langzeitarbeitslose, Hartz4-Empfängerin und ich mache nebenbei so einen 1-Euro-Job.“ Mit ihrer roten Baskenmütze auf dem Kopf, farblich abgestimmt zum Oberteil und einem modernen Ring am Finger sitzt sie vor ihrem Blatt Papier mit Notizen – Gedanken und Beobachtungen, die sie für das Gespräch aufgeschrieben hat.
Dabei fällt ihr wieder der Artikel in der letzten Ausgabe der Promenadenmischung über die Kneipenszene in der Weisestraße ein. Darüber kann sie sich immer noch gut amüsieren. „In der Weisestraße soll die Szene sein? Da hab ich wirklich gelacht. Weisestraße ist, wo die Penner rumhängen. Wo man nachts das Fenster schließen muss, dass man schlafen kann, weil alles so laut ist, und weil die Besoffenen am Wochenende rumkrakeelen.“ Ziemlich skurril sei das. Und ganz fassen kann sie es auch immer noch nicht. Klar sei sie froh, dass sich dieses geändert habe. Nur herrsche jetzt eben ein anderes Extrem.
„Was mich wütend macht, ist, dass diese Leute inzwischen bestimmen, was Neukölln ist oder, was der Schillerkiez sein soll. Das finde ich auch eine Anmaßung. Ohne, dass sie irgendetwas wissen von den Menschen hier, wie die hier leben, wo die sich bewegen oder was deren Bedürfnisse sind.“ Abenteuerspielplatz für junge Leute – auch das hat sie auf dem Blatt Papier notiert. „Gehen Sie mal am ersten Wochenende des Monats, wenn es Geld gegeben hat, zu Lidl. Dann kriegen sie mit, was Neukölln ist. Was Neukölln auch ist.“
Nur werde es diese „Neuköllner Mischung“, wie sie es nennt, wohl auch nicht mehr lange geben, wenn es mit der Entwicklung im Viertel unverändert so weitergehe. „Wenn jetzt die Häuser rundherum verkauft werden, und die Mieten steigen, ist unsereiner bald nicht mehr hier. Das hat man doch schon überall gesehen, und es ist auch nicht begreiflich, dass da nicht mal endlich was gemacht wird.“
Der Text ist im Original in der Dezemberausgabe der Schillerkiezzeitung “Promenadenmischung” erschienen.
Kommentare:
Ich kann sie verstehen. Aber irgendwo muss ein junger Mensch, der sich aus seinem Heimatort in die weite Welt aufmacht, nun mal hinziehen. Und meistens haben junge Leute nicht so viel Geld, deswegen ziehen sie an Orte wie Neukölln. Denn sie wollen auch in einem schönen, lebhaften Viertel wohnen und nicht in der Platte am Stadtrand. Dass es so viele von ihnen gibt, dafür können sie ja nichts.
Das Spekulieren mit Wohnraum in diesen Vierteln auf der anderen Seite ist vielleicht das eigentliche Problem.
Neukölln ist so teuer geworden, die Mär von jungen Leuten ohne Geld – die jetzt noch! – dahin ziehen, die ist schlichtweg falsch. Neukölln ist inzwischen teurer als Friedrichshain in den Neuvermietungen.
Das tut der richtigen Feststellung, dass die Mietpreise noch immer vom Vermieter gemacht werden aber keinen Abbruch. Dort ist das Problem der Verteuerung.
Meine Meinung: Die jungen Leute suchen etwas und zerstören es gleichzeitig mit ihrem Zuzug. Als Schule des Lebens empfehle ich das Wohnen in Gropiusstadt oder in Hellersdorf. Mit 20 Jahren ist man ja uach noch mobil genug, um in die Innenstädte zu fahren. Außerdem – ganz wichtig – gibt #Berlin etwas zurück! Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich sozail zu engagieren, z.B. http://givesomethingbacktoberlin.com/