Text: Irina Marjell, Collage: Katrin Friedmann
Die zehn Gebote
Auf die Frage, ob sie gläubig sei, antwortete meine Oma neulich, sie habe damals die zehn Gebote auswendig gelernt. Langsam aber bestimmt beginnt sie, einige der zehn Gebote des Christentums aufzuzählen. Da dies jedoch keine zufriedenstellende Antwort auf meine Frage ist, versuche ich in Erfahrung zu bringen, ob sie früher denn regelmäßig die Kirche besucht habe. Daraufhin gibt meine Oma ein fast schon verächtliches Schnauben von sich. Auf dem Land, wo meine Oma aufgewachsen ist, sei man froh gewesen, wenn man wenigstens den Sonntag zu Hause bleiben konnte und keine Verpflichtungen hatte. „Da konnte ich dann mal meine Socken stopfen!“. Zudem habe es in ihrer näheren Umgebung gar keine Kirche gegeben und nur an Weihnachten sei man mit der Familie zum Gottesdienst gegangen.
Trotz der nicht vorhandenen Nähe zur Kirche scheint bei meiner Oma nun eine große Menge an Erinnerungen geweckt. So erfahre ich von einer Angehörigen, die damals in eine obskure Gemeinde eingetreten war. Das Anrufen des Teufels habe dort auf der Tagesordnung gestanden und viele Mitglieder seien später auch von eben diesem besessen gewesen. Während meine Oma erzählt, beobachte ich ihre Mimik und Gestik, die einen Zweifel an der Geschichte nicht im Geringsten erahnen lassen. Woran sie gemerkt habe, dass die Person vom Teufel besessen war? Dies habe sich unter anderem durch einen unerhört vulgären Sprachgebrauch geäußert. Darüber muss ich ein bisschen schmunzeln und meine Oma ist am Ende ihrer Geschichte angelangt. Als eine Art Schlusswort meint sie noch, dass sie ganz sicher keine Kirche brauche, um zu wissen, dass sie nicht töten oder stehlen dürfe.
Das klingt, zumindest in meinen Ohren, sehr vernünftig.
Taube Ohren
Meine Oma hat einen starken Charakter mit einer gefestigten Meinung, kurzum: sie ist sehr stur. Mit ihr zu diskutieren ist zwecklos. Sollte es vorkommen, dass man in einer Diskussion wider Erwarten die besseren Argumente bringt, stellt sie sich taub und wechselt freimütig das Thema. Tatsächlich weiß ich manchmal nicht, ob ich lachen oder zornig sein soll. In solch einer Situation jedoch die Stimme zu erheben, fiele mir nicht im Traum ein. Allein schon deshalb, weil meine Oma es verboten hat. Ihre Hörgeräte sind nämlich nicht darauf eingestellt.
Irina Marjell wird demnächst ihre „Geschichten über Oma“ erstmals vor Publikum lesen: Am 12.3.15 um 20 Uhr im Café Tasso – Das andere Antiquariat, Frankfurter Allee 11, Friedrichshain. Eintritt ist frei, Spenden erbeten.