Alt werden in Neukölln

GeschichtenueberOMA_Gentri01Oma ist die Beste, da sind wir uns sicherlich einig. Großmütter sind herzlich und eigensinnig, besitzen ganz spezielle Hobbys und haben in ihrem Leben eine Menge erlebt. Irina Marjell schreibt für uns regelmäßig Geschichten über ihre Oma aus Neukölln auf. (mehr …)

Text:

Mittwoch, 14. Januar 2015

Text: Irina Marjell, Collage: Katrin Friedmann

Es ist kein Geheimnis: Die Jungen haben Neukölln erobert. Gefühlt jedes zweite Gewerbe, das hier neu eröffnet, ist auf sie und ihre Bedürfnisse angepasst. Wenn ich durch die Straßen gehe, die mir seit der Kindheit vertraut sind, staune ich. Dort, wo früher einfach nichts war, sitzen nun schöne Menschen in schicken Bürogemeinschaften. Offene Backsteinwände in minimalistisch eingerichteten Räumen – das volle Programm. Zwei Straßen weiter: Der Zeitungsladen heißt nun Späti, hat aber immer noch das gleiche Angebot wie früher. Nur werden hier morgens keine Schrippen mehr verkauft, dafür ist die Auswahl an Biersorten größer geworden. Ich setze meinen Streifzug fort und komme an zahlreichen Schaufenstern vorbei, die dem Betrachter irgendwas mit Kunst, Kaffee oder Kneipe offenbaren. Ich bleibe vor einem veganen Café stehen, das im letzten Sommer eröffnet hat. Etwas weiter links sticht mir ein Sushi-Restaurant ins Auge. Früher wohnte und arbeitete in diesem Haus ein Schustermeister, bis zu jenem Tag vor neun Jahren, als er in seiner Werkstatt ermordet wurde. Es sollen sieben oder acht Messerstiche gewesen sein. Das weiß ich von meiner Oma, die nur einige Häuserblöcke entfernt wohnt. Der Mord ist bis heute ungeklärt. Damals war die Gegend rund um den Körnerpark noch der „Gruselkiez von Neukölln“ und die Polizei suchte nach blutbefleckten Geldscheinen.
Ich schaue der Metamorphose dieses Bezirks zu und fühle mich alt. Nur wie mögen sich diejenigen fühlen, die es tatsächlich sind?
Wie fühlt es sich an, hier alt zu werden? Wie fühlt es sich an, alt zu sein in Neukölln?

Meine Oma ist vor kurzem 95 Jahre alt geworden. In ihren kleinen vier Wänden bekommt sie von der Verwandlung ihres Bezirks nicht viel mit. Neulich gab es eine Mieterhöhung, im Gegensatz zu meiner Oma haben ihre Vermieter nämlich mittlerweile mitbekommen, dass Neukölln jetzt zur Szene gehört.
Als meine Oma noch regelmäßig einmal die Woche ihren Arzt aufsuchte, kam sie eines Vormittags mit einer anderen alten Dame ins Gespräch. Diese hatte sogar noch einige Jahre mehr auf dem Buckel als meine Oma. Man informierte sich gegenseitig über die Gründe des Arztbesuchs und die alte Dame klagte über das unerwünscht lange Leben, das ihr der liebe Gott beschert hatte. Aus Neukölln sei sie nie rausgekommen. Aber „sich vom Dach stürzen“, das könne man ja auch nicht.
Diese Begegnung ist nun schon ein paar Monate her, und manchmal zitiert meine Oma diese Dame noch, wenn sie sich selbst beschissen fühlt, der Rücken schmerzt, die Abende lang werden und sie sich fragt, was sie hier auf dieser Erde überhaupt noch verloren hat.
Ich vermute das Letzte was sie sich wünscht, ist ein weiteres hippes Etablissement in ihrer Straße. Aber wen interessiert das schon?
Alt werden wollen alle, alt sein will keiner.

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„Weihnachten mit Oma“
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„Berlin, Vorort zur Hölle“

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