Berlin, Vorort zur Hölle

GeschichtenueberOMA1Oma ist die Beste, da sind wir uns sicherlich einig. Großmütter sind herzlich und eigensinnig, besitzen ganz spezielle Hobbys und haben in ihrem Leben eine Menge erlebt. Irina Marjell schreibt für uns regelmäßig wunderbare Geschichten über ihre Oma aus Neukölln auf.

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Text:

Dienstag, 14. Oktober 2014

Text: Irina Marjell, Collage: Katrin Friedmann

Berlin-Neukölln

Meine Oma wird dieses Jahr 95 und wohnt seit 1986 in Berlin. Keinen einzigen Monat hat sie in einem anderen Bezirk verbracht als in Neukölln.
Wenn man sie jetzt fragt, bezeichnet sie Berlin als Vorort zur Hölle. Wie genau sich diese Meinung verfestigt hat ist unklar. Vielleicht ist es gar nicht so sehr der Ort, sondern eher die Zeit, in der sich 94-jährige Omas nicht mehr ganz so gut zurecht finden.
Meine Oma war aus gesundheitlichen Gründen seit geraumer Zeit nicht mehr allein vor der Tür. Sie lebt ohne Fernseher, ohne Radio und ohne Tageszeitung seit vielen Jahren in der selben kleinen Wohnung im Herzen von Neukölln. Früher war der Besuch des Flohmarktes eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Die Leute kannten sie, man kam öfter mal ins Gespräch. Scheinbar hat auch niemand etwas gesagt, als sie ein oder zwei Mal ein paar Pflanzenübertöpfe mitgehen ließ. Wenn man sie nach dem Grund dieser kriminellen Handlungen fragt, pfeift sie nur spitzbübisch durch ihre nicht mehr vorhandenen Zähne.

Mein kleiner grüner Kaktus

Kakteen sind ihre größte Leidenschaft. Da sie nicht mehr gut sehen kann, muss man ihr von Zeit zu Zeit Auskünfte über Läusebefall oder Verbrennung durch zu starke Sonneneinstrahlung geben. Wie letzteres geschehen kann ist mir jedoch schleierhaft, da meine Oma ihre Kakteen, zumindest im Sommer, täglich schattiert und Pappen vor das Fenster stellt. Eigentlich dachte ich, Kakteen seien jene Gattung von Pflanzen, die mit starker Hitze und Sonne gut umgehen kann. Doch: weit gefehlt. Das Bild vom genügsamen, stachligen Überlebenskünstler ist nur eine Utopie! Kakteen, wie zum Beispiel jene mit dem schönen Namen Mammillaria, sind hoch sensible Lebewesen, deren komplexen Bedürfnissen man erst gerecht werden kann, wenn man seitenweise Fachliteratur studiert hat. Zumindest wenn es nach meiner Oma geht.
Besonders beim Umpflanzen ist meine Oma penibel. Ab und zu erkundigt sie sich nach meiner eigenen, im Gegensatz zu ihrer Menge an Kakteen, bescheidenen Sammlung. Wenn ich ihr erzähle, dass ich dieser schon seit Jahren keine neue Erde mehr gegönnt habe, schlägt sie die Hände über dem Kopf zusammen. Wenn ich ihr dann weiter berichte, dass ich dennoch Jahr für Jahr mit voller Blüte belohnt werde, funkelt sie mich nur ungläubig an. Über die Dauer der Blüte ihrer eigenen Kakteen gibt sie gerne und sehr bereitwillig Auskunft. Meine Oma kann auch Wochen, wenn nicht Jahre später noch rekapitulieren, welcher ihrer stachligen Mitbewohner wann, wie lange und in welchem Umfang geblüht hat. Manchmal frage ich mich, ob sie nicht heimlich Buch darüber führt.

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