„Es gab keine Debatte. Döner, Drogen, Großfamilie – diese Zuweisung im Kopf muss man durchbrechen.“ Özlem Gezer, Journalistin des Spiegel fasst das Fehlverhalten journalistischer Berichterstattung im Zusammenhang mit den Morden an Kleinunternehmern in deutschen Großstädten zusammen.
Die gleiche Mischung aus Empörung und Betroffenheit, die das Bekanntwerden der NSU-Morde auslöste, war ebenfalls am Sonntagvormittag im Publikum des Kulturstalls Britz zu spüren, wo über den heutigen Umgang von Politik und Gesellschaft mit Rechtsradikalismus diskutiert wurde. Zur Diskussion hatte der Leiter des Museums Neukölln, Dr. Udo Gößwald, Prof.Dr. Minkenberg, Politikprofessor der Universität Viadrina Frankfurt/Oder, die Autorin Esther Dischereit und die Journalistin Özlem Gezer eingeladen. Etwa dreißig Personen, überwiegend aus Neukölln, saßen im Publikum.
Udo Gößwald stellte als Moderator gezielt Fragen an die einzelnen Diskussionsteilnehmer, so dass ein breites Spektrum an Betrachtungsweisen desselben Themas für das Publikum sichtbar wurde. So beschäftigt sich Özlem Gezer mit den Folgen der NSU-Morde für Migrantenfamilien, Prof. Dr. Michael Minkenberg forscht über Rassismus in Europa und Esther Dischereit, die die NSU-Morde auch musikalisch, in Form von Klageliedern („Blumen für Othello. Über die Verbrechen von Jena“) verarbeitet hat, beobachtete den Untersuchungsauschuss des Bundestages. Interessant dabei war vor allem zu erfahren, wie die Arbeit im Untersuchungsausschuss des Bundestages konkret ausgesehen hat.
Die NSU-Morde sind ein Anlass diese Diskussion anlässlich des Gedenkwochenendes zum 75. Jahrestag der Pogromnacht am 9. November 1938 zu führen, so die Neuköllner Bezirksstadträtin für Bildung und Kultur Franziska Giffey in ihrer Begrüßung. Doch Rechtsextreme gebe es auch in Neukölln, wie Brandanschläge auf Migrantenfamilien in der Hufeisensiedlung in Britz, Überfälle auf Jugendliche in Nord-Neukölln oder die Versuche der NPD einen Bundesparteitag in der Gropiusstadt abzuhalten, belegen.
Nährboden des modernen Rechtsextremismus
Anfang der 1990er Jahre fand in Deutschland eine Debatte über das Asylrecht in Deutschland statt. Zeitgleich kam es zu rechtsextrem motivierten Brandanschlägen in Rostock, Solingen, und Mölln, erinnert Prof. Dr. Michael Minkenberg. Seiner Meinung nach habe die Politik zu wenig auf aufkommende ausländerfeindliche Tendenzen reagiert, weil sie überfordert gewesen sei: „Die Asylbewerber wurden nach einem bestimmten Schlüssel auf die Städte aufgeteilt, aber es gab noch keine Tradition, wie man mit ihnen umgehen sollte“. Diese Phase kurz nach der Wiedervereinigung sei prägend für die Mitglieder des NSU-Trio gewesen. Doch wie konnte die NSU 13 Jahre lang scheinbar unbemerkt im Untergrund agieren?
Rechtsextremismus in Deutschland sei weniger parteipolitisch organisiert, wie zum Beispiel mit der Front National in Frankreich, erläutert Minkenberg. Vielmehr gäbe es viele nebeneinander bestehende starke Gruppen. Das mache den Rechtsextremismus in Deutschland weniger greifbar und kontrollierbar. Derzeit gehe man von 8.000-10.000 gewaltbereiten Rechten in Deutschland aus, von denen mehr als die Hälfte in den neuen Bundesländern lebe.
Aus Opfern wurden Beschuldigte
Das Deutschlandbild von Migranten habe ich seit den NSU-Morden verändert, sagt die Spiegel-Journalistin Özlem Gezer, deren Familie vor über 40 Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist. „Das Ur-Vertrauen von Migranten in die deutsche Justiz ist verloren. Ihr Heimatgefühl ist weg. Vielen denken jetzt: Wenn uns etwas passiert, sind wir erstmal selbst Schuld.“ Das habe auch viel mit den Ermittlungen der Polizei damals zu tun, die die Opfer zunächst als Täter darstellte, weil sie vermutete, die Morde könnten in Zusammenhang mit Drogengeschäften, Korruption oder anderen kriminellen Machenschaften stehen. Die Angehörigen der Opfer seien aufgrund ihrer Herkunft stigmatisiert, es sei zu vorschnell nur in diese eine Richtung ermittelt worden, obwohl immer wieder einzelne Polizeibeamte zu bedenken gegeben hätten, dass Ausländerfeindlichkeit das Mordmotiv sein könnte, gibt die Schriftstellerin Esther Dischereit zu bedenken. Sie hat die Arbeit des Untersuchungsausschusses des Bundestages begleitet. Minkeberg wirft nicht nur den Verfassungsapparaten „komplettes Versagen“ vor, sondern kritisiert auch die Medien, die „ihre Blickrichtung hätten ändern müssen“. Rassismus werde leider „zu wenig als Bedrohung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung“ angesehen.
Esther Dischereit weist darauf hin, dass die Täter immer auch einen Unterstützerkreis um sich haben. „Man muss die Vorstellung aufgeben, die NSU würde nur aus drei Personen bestehen. Diese Vorstellung geht einher mit einer konstanten Unterschätzung des rechtsextremen Potenzials. Es gibt Netzwerke.“ Die jüdische Autorin lobt die Institution des Untersuchungsausschusses als „ein Stück Demokratie, das wir bisher nicht hatten“, berichtet aber auch von Fragen, die in diesem Gremium an die Zeugen gar nicht gestellt werden durften. Dadurch sei verhindert worden, Ermittlungspannen der Sicherheits- und Justizbehörden ausreichend aufzuklären. Begründet worden sei dies meistens mit dem Hinweis, dass die Unterlassung einer bestimmten Frage dem „Staatswohl“ diene. „Immer neue Skandale kamen im Untersuchungsausschuss ans Licht. Aber es passierte nichts“, resümiert die Erich-Fried-Preisträgerin und warnt sichtbar bewegt: „Schauen Sie nach rechts!“. Diese Boebachtungen aus erster Hand zu hören, schockierte viele aus dem Publikum.
Untersuchungsausschuss für Berlin?
Konkret fordert Dischereit die Länder Berlin und Baden-Württemberg dazu auf, ebenfalls einen Untersuchungsausschuss einzurichten, um zur Aufklärung dieser Morde und anderer Straftaten der rechtsextremen Szene beizutragen. „Die Maschinen des Verfassungsschutzes gegen Links sind gut geölt.“, kommentiert Minkeberg ihre Forderung. „Über einen Untersuchungsausschuss für Berlin muss das Abgeordnetenhaus entscheiden. Das läuft auf Landesebene, wir aus Neukölln können da nur Empfehlungen abgeben“, antwortet Stadträtin Franziska Giffey.
Auch aus dem Publikum kommt die Frage, was von Seiten der Politik, speziell in Neukölln getan werden könne. Giffey erklärt, dass beispielsweise Flüchtlingswohnheime geschützt werden müssten. Im Februar 2014 werde eine solche Einrichtung in der Späthstraße in Britz neu eröffnet werden. Im Zusammenhang mit Ausländerfeindlichkeit weist sie auch auf zunehmend anti-tziganistische Tendenzen im Stadtteil hin und betont, wie wichtig das bürgerschaftliche Engagement neben den Bemühungen der Lokalpolitik in Neukölln sei.
Zurück bleiben von diesem Vormittag vor allem zwei Eindrücke und ein mulmiges Gefühl: Die deutsche Gesellschaft und damit jeder einzelne von uns darf nicht zulassen, dass Migranten das Vertrauen zu Deutschland verlieren und in Angst unter uns leben. Und alle Diskussionsteilnehmer waren sich einig darüber, dass der Staatsapparat völlig versagt habe.
Parallel zur Diskussion stellte die Künstlerin Yvon Chabrowski ihre Videoinstallation „Dramatische Funde im Schutthaufen“ vor, die die Arbeiten der Spurensicherung nach der Explosion und dem Brand der Wohnung reinszenieren, in der das NSU-Trio in Zwickau gelebt hat. Der zwölfminütige Film lief in Endlosschleife. Männer und Frauen in Overalls suchen nach brauchbaren Spuren, die verwüstete, graue Umgebung erinnert an die Trümmerberge nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Brand habe es einen Aufschrei in der Gesellschaft gegeben, so die Künstlerin. Ihre Antwort auf die Frage, was jeder Einzelne gegen Rassismus unternehmen könne: „Selbst mit offenen Augen durch die Gegend laufen“.