Die Kirche ist voll. Voller als an jedem Sonntag. Und das an einem Donnerstagabend. Vor dem katholischen Altar sitzt eine evangelische Pfarrerin und moderiert die Informationsveranstaltung mit vier Gästen. Im Publikum sitzen vor allem Anwohner und Mitglieder des Bündnis Neukölln, ein Zusammenschluss von Organisationen und privaten Einrichtungen, die sich für eine Willkommenskultur im Bezirk einsetzen und zur der Veranstaltung eingeladen haben. Sie alle nehmen lebhaften Anteil am geplanten Flüchtlingsunterkunft in der Karl-Marx-Straße 269. Gastgeber ist der Pfarrer und Dekan Martin Kalinowski, der in seiner Begrüßung auf die Tradition der Flüchtlingsarbeit des Dekanats Katholische Kirche Nord-Neukölln hinweist. Die Veranstaltung wird in Englisch, Türkisch, Spanisch und Farsi gedolmetscht.
Für das Grundstück in Britz in Höhe der U-Bahn-Station Grenzallee gibt es offiziell noch kein Auftrag vom Senat, deswegen sitzt auch kein Vertreter des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) auf dem Podium. Neben Georg Classen (Flüchtlingsrat Berlin), Biplab Basu (ReachOut Berlin), Michael Elias (SoWo Berlin GmbH, möglicher Betreiber des Wohnheims) ist auch Bernd Szczepanski (Neuköllner Stadtrat für Soziales/Die Grünen) gekommen, um sich den Fragen der Anwohner zu stellen. Die Kreisjugendpfarrerin Marita Lersner moderiert charmant und wortgewandt diese Männerrunde.
Zuerst gibt Georg Classen vom Flüchtlingsrat einen Überblick über die aktuelle Lage von Flüchtlingen in Deutschland, in Berlin, und in Neukölln im Speziellen: Von rund 14.000 Flüchtlingen in Berlin sind gerade einmal 393 in Neukölln untergebracht (Lichtenberg: 2001, Mitte: 1768 Menschen). Neukölln ist damit der Bezirk mit der geringsten Rate an Flüchtlingsunterbringung, gibt Szczepanski als Hintergrund. Neukölln hat bisher nur zwei (Not-)Unterkünfte (Haarlemer Straße bzw. Mariendorfer Weg). Theoretisch dürften Flüchtlinge sich nach drei Monaten auch eine Wohnung mieten, wegen der Mietpreisentwicklungen scheint dies jedoch nahezu unmöglich, da die Miete auch bei ihnen das Niveau eines Hartz-IV-Empfängers nicht überschreiten darf.
Classen berichtet, dass 22% der Flüchtlinge aktuell aus Syrien stammen, weitere vor allem vom Balkan, aus Eritrea, Somialia, dem Irak und Afghanistan. Wegen der Bürgerkriege in Syrien und Somalia sei die Anerkennungsquote der Asylanträge derzeit sehr hoch. Was die Unterbringung angeht, kritisiert er scharf, dass im Wohnheim Haarlemer Straße monatelang kein Brandschutz vorhanden gewesen sei, auf den Fluren aber 24 Stunden Überwachungskameras laufen sollen. Bernd Szczepanski ergänzt, dass der Brandschutz mittlerweile umgesetzt sei.
Mindestens 9 Quadratmeter pro Bewohner
Für das Konzept des geplanten neuen Wohnheims ist Michael Elias verantwortlich. „Wir wollen die Leute nicht einfach nur unterbringen, die Leute sollen in die Lage versetzt werden in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Wir sind auf den Bezirk zugegangen, ob der Standort geeignet ist und haben Bedürfnisse der Nachbarschaft miteinbezogen, was architektonisch passt und möglich ist“, so der 1. Geschäftsführer der SoWo-Berlin GmbH. Geplant seien kleine Wohneinheiten und Aufenthaltsräume für ca. 320 Flüchtlinge sowie eine Kita im vorderen Bereich des 11.000 Quadratmeter großen Grundstücks, die offen für Kinder aus dem ganzen Kiez sein soll.
Maximal zwei Personen sollen sich ein ca. 18 Quadratmeter großes Zimmer teilen. Familien sollen Einheiten aus mehreren Zimmern mit Verbindungstüren bekommen. Mit dieser Größe liegen die Baupläne über den Mindestanforderungen für die Unterbringung von Flüchtlingen. Es handle sich bei der Bauart um die sogenannte modulare Leichtbauweise, die aber „gefühlt nichts mit Containern gemein haben, wenn man erstmal drinnen ist“, versichert Elias. Die Türen sollen Lärm abfangen, damit man im Zimmer mehr Ruhe und Privatsphäre hat. Es soll Gebetsräume sowie Räume für ärztliche Versorgung geben. Außerdem sollen alle Bewohner immer warm duschen können. Das sei längst nicht in allen 60 Unterkünften in Berlin der Fall.
Dazu Elias: „Wir möchten ein anderes Niveau an Unterbringung schaffen“. Also keine Videoüberwachung. Man lege Wert auf Transparenz und möchte ein offenes Haus anbieten. Das Gespräch kommt auf Gewalt gegen Flüchtlinge. Biplap Basu erklärt, dass „die Angriffe heutzutage etwas subtiler laufen“. Menschen würden eher einzeln angegriffen und nicht direkt vorm Wohnheim, sondern etwa im Bus oder beim Einkaufen.
Flüchtlingshilfe, nicht nur ehrenamtlich
Eine Anwohnerin möchte wissen, wie es um die psychosoziale Betreuung der Bewohner stehe, wie viele Sozialarbeiterstellen geplant seien und welches Sicherheitskonzept verfolgt werde. Außerdem weist sie darauf hin, dass es zwar schön sei, dass so viele Neuköllner sich für die Flüchtlinge engagieren, dass aber Deutschkurse und Angebote für Kinder und Jugendliche Angelegenheiten seien, die nicht nur von Ehrenamtlichen übernommen werden sollten. Ein sehr engagierter Ehrenamtlicher ist Georg Weise aus der Hufeisensiedlung, der jetzt das Wort hat. Über 80 Jahre alt, berichtet er von Fußballturnieren und Kochabenden mit Flüchtlingen aus der Haarlemer Straße, die er mitorganisiert hat. Er möchte Anregungen geben, was man mit einfachen Mitteln anbieten kann, damit Nachbarn und Flüchtlinge sich kennen lernen. Es ist oft die Rede von Willkommenskultur an diesem Abend. Dieser Rentner lebt sie.
Ein Mitglied von „Freifunk Berlin“ fragt nach Internet für Bewohner. Der Verein setzt sich für kostenloses Wlan-Netz in Berlin ein. Eine andere Frage einer Anwohnerin, die wohl vielen durch den Kopf geht: „Was können wir als Anwohner konkret tun? Was wird benötigt?“ Für die Betreuung der Flüchtlinge sind elf Personen vorgesehen, dies umfasse auch die psychosoziale Betreuung. Kinder und Jugendliche sollen auf die umliegenden Schulen und Kitas verteilt werden. In der Haarlemer Straße habe man sehr gute Erfahrungen mit den Schulen gemacht. Zu der Frage des Internets gibt Elias an, dass in allen Teilen Wlan verfügbar sein soll. Außerdem soll es ein von Flüchtlingen betriebenes Internetcafé geben. Das Sicherheitskonzept ist Sache des Betreibers, nähere Angaben werden hierzu nicht gemacht. Classen fragt Elias nach Referenzen, denn bisher betreibe die SoWo-Berlin GmbH noch kein Wohnheim und verfüge lediglich über 25.000€ Kapital. Die Frage aus dem Publikum, wie solche Aufträge überhaupt vergeben werden und warum das private Betreiber sein müssen und nicht die Stadt Berlin, wird weniger transparent beantwortet. „Möchten Sie noch konkreter werden?“, hakt Pfarrerin Lersner freundlich, aber direkt bei Elias nach. Szczepanski weist darauf hin, dass es mehrere Angebote gab und das Konzept der SoWo-Berlin ihn überzeugt habe.
Fünf bis acht Stunden warten
In der nächsten Runde Redebeiträge meldet sich ein Mitglied der Britzer Flüchtlingshilfe. Der Mann berichtet von „massiven rassistischen Angriffen im Alltag beim Einkaufen und in den Behörden, vor allem bei der Ausländerbehörde“. Für einen „3-Minuten-Termin“ müsse ein Flüchtling dort nicht selten fünf bis acht Stunden warten. Er schlägt als konkrete Nachbarschaftshilfe die Begleitung zu Behörden vor. Als Sprachmittler aber auch als Beistand gegen Diskriminierung. „Nach dem Motto: Heute haben wir einen Scheißtermin in der Ausländerbehörde, aber morgen einen tollen im Britzer Garten!“, sagt der Mann. Es wird eifrig geklatscht in St. Eduard. Er verweist auch auf den oft sehr hohen Grad an Bildung und Qualifizierung der Flüchtlinge, z.B. auf geflüchtete Lehrerinnen aus Syrien.
Zum Abschluss des Abends macht Herr Basu noch zwei Vorschläge. Erstens möchte er eine „Heimwatchkultur“ etablieren. Das heißt, dass mehr darauf geachtet werden soll, wie Heime betrieben werden und wie es den Bewohnern dort tatsächlich geht. Klingt ein bisschen wie Big Brother, ist aber ernsthaft gut gemeint. Zweitens: Man soll die Flüchtlinge nicht vergessen, also nicht nur Kleider spenden, sondern die Menschen auf allen Ebenen mit einbeziehen. „Das ist ihr Leben und die müssen das gestalten!“, erinnert Basu.
Man fragt sich, wo an diesem Abend eigentlich die weniger offenen und toleranten Anwohner geblieben sind. Die Atmosphäre ist herzlicher als bei ähnlichen Veranstaltungen vor der Eröffnung der Unterkunft im Haarlemer/Späthstraße. Womöglich sind Andersdenkende der Einladung nicht gefolgt. Nur einer schleicht um die Kirche herum. Jan Sturm von der Neuköllner NPD. Als eine junge Frau vom Bündnis Neukölln ihm zuruft, dass sie ihn erkannt habe, rennt er davon.
Die Veranstalteter haben sich übrigens darauf verständigt, NPD-Anhängern und sonstigen Rechtsextremen den Zutritt zu verwehren. Doch so weit ist es gar nicht gekommen.