Von Arlette-Louise Ndakoze
Gelbes Flackern auf Fensterscheiben. Lichter der Nacht. Eine Frau im dunklen Raum vor den Fensterscheiben. Versunken in Gedanken, versunken in der Nacht, von der sie das Sichtbare aufzufangen scheint. Durch ihre Augen sehen wir. Und wir sehen nicht. Das Flackern, die Scheibe, der Schmierfilm, sie lassen nur vermuten, nichts durchdringen.
„Rosehill“ beginnt hier, wo eine Reise in undurchdringbare Wege beginnt. Es sind die Wege der amerikanischen Kleinstadt Bloomington, und die Wege zweier Frauen, die sich hier kreuzen, während Katriona ihre Jugendfreundin Alice besucht. Auf den Straßen Bloomingtons folgen wir ihnen, während sie zueinander finden, in Räumen, im Grünen, in Schweigen, Schwelgen, Schnattern. Auf Straßen, über die andere gebrettert sind, die andere befahren haben, zu anderen Zeiten. Zeiten, in denen Bloomington florierte, von der Kalksteinindustrie lebte und mit eben diesem Stein Amerikas Monumente wie das Empire State Building und das Pentagon erbaute.
Die 1970er Jahre, Zeiten, in denen Kalkstein aus Bloomington noch einmal gefragt war, sie flackern im Film wieder auf – in stonewashed bunten Farben auf Super 16-Filmformat. So weit weg scheinen sie. „13.000 Leute lebten hier, als er seine Recherchen betrieb”, sagt Alice zu ihrer Freundin, die sich bei ihr eingehakt hat und den Friedhof der Stadt erläuft. Vermutlich spricht Alice vom legendären Sexualforscher Alfred Kinsey, der hier seit 1956 ruht. Dr. Sex wird er landläufig genannt. Über Landesgrenzen hinaus war Kinsey in den 30ern und 40ern bekannt. Er widmete sich dem Sexualverhalten der Amerikaner, gründete in Bloomington ein Institut für Sexualforschung – für Amerikaner eine Anzüglichkeit, heute noch.
„Was viele Leute nicht wissen, ist, dass Kinsey und seine Forscher erotische Gegenstände aus aller Welt gesammelt hatten, darunter erotische Filme“, erzählt Brigitta Wagner. Sie hat die erotischen Filme für „Rosehill“ gesichtet und ausgewählt, blinde Flecken der 1930er und 40er Jahre. „Mich interessierten die Frauen in den Filmen, und die Männer hinter der Kamera. Ich wollte dieser unterbelichteten Filmindustrie und den Frauen darin ein neues Leben geben, und damit eine Chance, etwas anderes zu bedeuten, vielleicht.“ „Du verdeckst den Namen!“, ruft Katriona ihrer Freundin zu, die vor dem Grabstein steht. Es ist vielleicht kein Zufall, dass vom Namen nur zwei Buchstaben zu sehen sind, dass sich der vermutlich große Name hinter Alice nicht aufdrängt. Dass Alice dessen Platz einnimmt.
Gute Filme bringen uns zum Weinen
Eine Frau in einer Stadt. Eine Frau in der Stadtgeschichte. Eine Frau, mit der Geschichte beginnt. Es ist vielleicht kein Zufall, dass dieser Bloomingtoner Friedhof in Wirklichkeit „Rose Hill“ heißt – und sich beide Teile des Namens im Filmtitel einen, dort zu etwas anderem werden, in „Rosehill“. Eine Frau in einer Stadt. Die Stadt ist Berlin, die Frau Brigitta Wagner, „halb Amerikanerin, halb Deutsche“. Filmhistorikerin und Regisseurin. Sie hat „Rosehill“ geschrieben und gedreht, Fiktion mit Dokumentation verwebt.
Verblichenes Herbstlicht flutet durch die Fenster eines Neuköllner Cafés, wo Brigitta Wagner jetzt sitzt, mit leuchtenden Augen von Filmen spricht. „Ich war immer begeistert von der Idee, dass diese Kunst Leute zum Fühlen bringt. Ich dachte immer als Kind, ein guter Film ist ein Film, der uns zum Weinen bringt. Weil es so was Universelles hat, also dass man durch Bilder, durch Erzählung Emotionen zeigt. Ich dachte, das ist die Magie.“ Auch in ihrem Leben knüpft Universelles an Persönlichem, geht Filmgeschichte, Geschichte überhaupt, in ihre persönliche Geschichte ein.
Brigitta Wagner ist in der Nähe New Yorks aufgewachsen, ihre deutsche Familie kommt aus Berlin. In ihren Kindertagen war sie oft in der DDR zu Besuch, stellte 1989 das Radio lauter, als es den Mauerfall verkündete. Geprägt hat sie die Stadt, im Leben wie in Filmen. „In Berlin wie in keiner anderen Stadt habe ich das Gefühl, man lernt eine Menge über Menschen und über das Leben. Über die schlimmsten Sachen, die passieren können. Darüber, wie man weiter wachsen kann und was Neues kommt. Das habe ich immer faszinierend gefunden, dass man so kurzfristig zwischen Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nazizeit und Kalter Krieg wechseln konnte.“ Einen Teil DDR-Geschichte miterlebt zu haben, das hat sie berührt.
Neukölln? Städtischer als der Ku’damm!
Immer wieder verschlug es sie dann ins vereinte Berlin. Bis sie vor über zehn Jahren hier ein Zuhause fand. „Ich landete in Kreuzberg. Als ich hier hinzog, habe ich gleich verstanden: Es gibt eine große Linie zwischen Kreuzberg und Neukölln. Das waren wirklich ganz unterschiedliche Orte. Man sprach nicht von Kreuzkölln oder so. Neukölln aufblühen zu sehen, diesen einerseits multikulturellen Stadtteil, das fand ich immer spannend. Ich fand die Infrastruktur in Neukölln spannend, wie Sonnenallee oder Karl-Marx-Straße. Dass man diese Dichte von Menschen hat, die man sonst in Berlin nicht richtig hat. Manchmal hat man mehr Stadtgefühl in Neukölln als auf dem Ku’damm oder am Alex. Für mich persönlich ist die Karl-Marx-Straße das Städtischste, was Berlin zu bieten hat, weil man Kontakt mit Menschen hat.“
Zwei Parallelstraßen weiter, in der Weserstraße, bringt Brigitta Wagner junge Menschen mit Film in Kontakt. Im Wolf Kino unterrichtet sie Schüler des Albert-Schweitzer-Gymnasiums. Einmal die Woche erfahren sie „die Geschichte von Kino und was es heißt, Kino zu machen“. Ein ganzes Schuljahr geht das Projekt, bei dem die Schüler einen gemeinsamen Film machen werden. Ende Juni 2018 wird er im Wolf Kino zu sehen sein.
Klassischen Verleih hat die Regisseurin nicht im Blick
Ihren eigenen Film „Rosehill“ zeigt Brigitta Wagner seit zwei Jahren, seit seiner Premiere beim Atlanta Film Festival. Sie brachte ihn dann in kleine Orte und Großstädte, in die Uni und aufs Land. Unkonventionell ist das, und passt irgendwie zu „Rosehill“, inhaltlich wie zur Entstehungsgeschichte: Mit einem kleinen Team und einem kleinen Budget wurde er gedreht, am kleinen Ort Bloomington, dessen Community auch im Film vorkommt. Den klassischen Verleih hatte die Regisseurin für den Film nicht im Blick. Das eröffnete andere Wege für ein anderes Publikum. Sie findet, klassische Verleih-Konzepte unterschätzten oft das Publikum, das fernab von Großstädten oder großen Kinos lebt und darauf wartet, interessante Filme zu sehen. Mehr Vertrauen sollte man den Leuten schenken, meint die Regisseurin und Filmdozentin.
Ein experimenteller Film wie „Rosehill“ hätte wiederum eine ganz andere Atmosphäre in einem marktbezogenen Rahmen. Den zieht Brigitta Wagner bei Sichtungen etwas enger, und macht „Rosehill“ besonders zugänglich. Es war ihr für den Film wichtig, „so viel Kontakt wie möglich mit dem Publikum zu haben. Und dass die Leute, die den Film mögen, sich beauftragt fühlen, ihn weiter zu empfehlen oder weiter zu programmieren, einen Kontext für den Film zu finden. Weil er verschiedene Kontexte hat, erhält der Film mit unterschiedlichen Leuten eine andere Bedeutung. Das habe ich bei Publikumsinteraktionen in den USA mitbekommen. Das liebe ich, weil: Einen Film kann ich nur machen – was er für Leute bedeutet, kann ich nicht beeinflussen. Die müssen selber mit ihren Ideen und Gefühlen kommen. Bis jetzt hat es funktioniert. Das ist ein kleines, aber feines Konzept. Ein bisschen wie eine Kerze und das Licht, das man weitergibt.“
„Können Sie mir Ihren Film erklären?“
Zwei Frauen in einer Stadt, zwei Frauen in der Geschichte, die Geschichte Amerikas: Alice und Katriona. Durch ihre Augen sehen wir. Und wir sehen nicht. Das Flackern in ihren Augen, es lässt vermuten, nichts durchdringen. Einem Zuschauer versperrte sich der Sinn komplett. Als „Rosehill“ früher im Jahr für die Dauer eines Abends im Wolf Kino lief, stand Brigitta Wagner Rede und Antwort. „Können Sie mir Ihren Film erklären?“ fragte jener Zuschauer tatsächlich. „Rosehill“ hatte ihn da sichtlich verlassen, der Sinn sich ihm entzogen, wo er woanders hätte aufgehen können: Im Inneren der Figuren, Texturen, Folkmusik, Melancholie und einer Handvoll Humor. Sie suchen den Kontakt mit dem Inneren der Zuschauer, mit dem sie aufgehen, erst dann zur Welt kommen können. Durch unsere Blicke, unser Gefühl. Es beginnt vielleicht mit einer Fensterscheibe, und Schmierfilm drauf.
Den eigenen Film erklären? Michelangelo Antonioni brachte es mal auf den Punkt, 1989 in einem Radiofeature, ein paar Monate, bevor Brigitta Wagner ihr eigenes Radio lauter drehte und Brocken Weltgeschichte mithörte, da sagte er: „Ich müsste einen neuen Film machen, um Ihnen meinen Film zu erklären“. Dem Sinn hinterher, der Spur hinterher: Das Flackern, das „Rosehill“ nach sich zieht, rollt Brigitta Wagner mit neuem Filmband derzeit auf – sie entwickelt gerade einen neuen Film. Unterdessen flackert „Rosehill“ weiter. Ab Ende November auf den Leinwänden des Kreuzberger The Hole und des Neuköllner Il Kino. Wie lange er dort bleibt, hat das Publikum in der Hand.
„Rosehill im Kino“ (englische Originalfassung): 22. November – The Hole 25. November – Il Kino 9. Dezember – Il Kino 13. Dezember – The Hole