Um Liebe soll es heute gehen. Ein kurzes Wort für das große Gefühl, das in der Geschichte der Menschheit so manchen Krieg heraufbeschworen, Weltreiche zu Fall gebracht und Shakespeare wie Tolstoi zu Meisterwerken inspiriert hat.
Etwas weniger dramatisch geht es an der Ecke Weserstraße/Pannierstraße zu. Dort führen Schauspieler des Maxim Gorki Theaters jeden Abend um 19 Uhr Neuköllner Liebesgeschichten auf. Diese stammen allerdings nicht aus der Feder berühmter Literaten, sondern von den Kiezbewohnern selbst. Die Autorin Anne Jelena Schulte sammelt seit dem 3. Mai die ganz persönlichen Geschichten des Kennenlernens, Verliebens und Trennens. Jeden Tag sitzt sie in ihrer neu eröffneten Schreibstube für Liebesangelegenheiten in der Pannierstraße 55 und protokolliert, was die Neuköllner ihr erzählen – Schönes, Trauriges, Lustiges und Denkwürdiges. Am Abend wird eine der Geschichten dem Publikum präsentiert.
Bürgersteig als Bühne
Heute bin ich Teil davon. Es ist schwül-warm und die Sonne scheint noch immer als ich kurz vor 19 Uhr an der Ecke Weserstraße/Pannierstraße ankomme. Lange Ausschau halten muss ich nicht, etliche junge Leute sitzen auf alten, kunterbunt zusammengewürfelten Stühlen, die zum Mobiliar jedes typischen Berliner Cafés gehören könnten. Ich suche mir einen Platz in der zweiten von drei Reihen und warte gespannt.
Die Schauspieler stehen bereits auf der ‚Bühne’. Die Bühne sind in diesem Fall die letzten eineinhalb Meter Bürgersteig vor dem Fahrradweg. Dennoch – ich hätte es spartanischer erwartet, die Requisite hat sich sichtlich Mühe gegeben, aus Wenig Viel zu machen: Ein alter Läufer, ein kleiner Tisch und ein Sessel geben ein glaubwürdiges Wohnzimmer ab. Ein Paravent und ein Schirmständer brechen endgültig mit Brechts Theorie des epischen Theaters.
„Hier müssen auch noch Leute durch!“
Das Ensemble des heutigen Abends besteht aus zwei Schauspielern, die etwas aufgeregt mit ihren erst kurz zuvor erhaltenen Skripten wedeln. Sie scheinen nervös, das Publikum ebenfalls. Diejenigen, die das erste Mal hier sind, blicken sich verschämt um. Man sitzt nur einen Meter von den Schauspielern entfernt und hört ihnen beim Proben zu. Ich habe das eigenartige Gefühl, eine intime Grenze überschritten zu haben.
Bei dem letzten Meter Abstand bleibt es allerdings nicht lange. Jemand ruft freundlich, aber bestimmt: „Hier müssen auch noch Leute durch!“ Recht hat er. Und so wird brav auch den letzten Meter vorgerückt und ich bin froh, nicht in der ersten Reihe zu sitzen. Mittlerweile haben sich außerdem etliche weitere Zuschauer eingefunden, die sich mangels Sitzgelegenheiten einfach drum herum stellen und den Bürgersteig nun doch wieder vollständig blockieren.
Es ist fünf nach sieben und die Vorstellung beginnt. Da es keinen Vorhang gibt, fangen die Schauspieler einfach an. Doch das aufmerksame und kultivierte Neuköllner Publikum verstummt sofort. Da hätte es die Nebelmaschine, die nach den ersten drei gefallenen Sätzen Darsteller und Zuschauer in dichten, weißen Rauch hüllt, gar nicht gebraucht. Deren Einsatz passt zwar inhaltlich zum Stück, da dem Protagonisten eine Art Vision widerfährt, allerdings hängt der Qualm in der windstillen, schwülen Luft fest und der Schauspieler kann sein Skript nicht mehr richtig erkennen. Alle wedeln ein bisschen und weiter geht’s.
Das Stück handelt von der schüchternen Annäherung an die erste große Liebe, die an der Entscheidung des ‚Helden’, zum Bund zu gehen, zerbricht. Von weiteren Versuchen, die Liebe zu finden, die letztendlich ebenfalls alle scheitern und der melancholischen Erinnerung an eben jene großen Gefühle von damals. Der Unglückliche glaubt an die „Wahrheit der Country Musik“ und so wird immer wieder der Song This World is not my Home eingespielt.
Nach einigen Minuten schließt sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite geräuschvoll ein Fenster. Vielleicht sind die Bewohner der Pannierstraße der allabendlichen Kultur überdrüssig. Das Publikum hingegen scheint begeistert, es wird viel gelacht und geklatscht.
Unmittelbar hinter den Schauspielern fahren immer wieder Fahrradfahrer vorbei, die irritiert und peinlich berührt, so unerwartet Teil eines Theaterstückes zu sein, etwas kräftiger in die Pedalen treten oder, sich der plötzlichen Aufmerksamkeit bewusst, langsamer werden und lächelnd und winkend vorüberrollen. Bei letzteren handelt es sich bemerkenswerterweise ausschließlich um Männer. Auch der M29 fährt in regelmäßigen Abständen vorbei und das laute Motorengeräusch des Doppeldeckerbusses erinnert einen wieder daran, dass man gerade mitten auf der Straße sitzt – zumindest fast.
Nach zwanzig Minuten ist alles vorbei. Viel Applaus. Ein glückliches Publikum und glückliche Schauspieler. Ich bin begeistert. Neukölln, Liebe und Kultur – es passt eben doch zusammen.
DIE HOFMEISTER
Ein Stück Neukölln in zwei Akten
Erster Akt: FREISTUNDE
Koproduktion mit Campus Rütli / 1. Gemeinschaftsschule Neukölln
Premiere am 26. Mai 2011 um 19 Uhr auf dem Campus Rütli
Kommentare:
Toller Beitrag! Sehr informativ. Ich hoffe weitere Beiträge werden folgen.