Handeln statt debattieren

Kazim Erdoğan ist ein Macher. Für sein Engagement wird er am nächsten Montag mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Ein Interview in Zusammenarbeit mit dem tazblog M29. (mehr …)

Mittwoch, 28. November 2012

Kazim Erdoğan, geboren in der Türkei, kam mit Anfang 20 nach Berlin. Er studierte in den 1970er Jahren Psychologie und Soziologie an der Freien Universität Berlin, arbeitete als Hauptschullehrer, Schulpsychologe und ist seit 2003 als Psychologe bei den Psychosozialen Diensten in Neukölln tätig. Unzählige Projekte hat er angeschoben und begleitet; bekannt ist er vor allem durch die Neuköllner und Berliner Sprachwoche und seine Selbsthilfegruppe für türkische Männer. Am nächsten Montag erhält Kazim Erdoğan das Bundesverdienstkreuz vom Bundespräsidenten.

Elisabeth Wirth: Herr Erdoğan, Sie haben unzählige Projekte initiiert. Bekannt sind Sie vielen durch die Neuköllner Sprachwoche, die in diesem Jahr in ganz Berlin stattfand und Ihre Vätergruppe, eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer. Warum so viel Engagement?

Kazim Erdoğan: Es gibt sehr viele Baustellen, man kann gar nicht genug machen. Jahrelang habe ich auf Engagement gewartet und gehofft und als mein Wunsch nicht in Erfüllung ging, habe ich gedacht, dann fang bei dir an.

Können Sie sich an Ihr erstes Projekt erinnern?

Das war 1975. Ich habe für Gastarbeiter übersetzt.

Seit 2007 leiten Sie die Vätergruppe. Wie kamen Sie auf die Idee?

Man redet und schreibt sehr viel über Väter, aber man spricht nicht mit Ihnen. Wir sind eine vaterlose Gesellschaft. Bildung und Erziehung liegt in Frauenhand; in Kindergärten und Grundschulen arbeiten hauptsächlich Frauen. Kinder brauchen aber auch ihre Väter. Ohne Väter haben Sie Bildung und Erziehung auf einem Bein. Es gab kein Angebot für Männer, das sie als Väter einbezieht.

Wie laufen denn die Treffen ab?

Wir treffen uns einmal in der Woche, jeden Montag für zwei Stunden. Wir haben ein Thema oder ein aktuelles Ereignis und unterhalten uns darüber. Wir besprechen, wie man zum Beispiel eine Gewalttat hätte verhindern können und überlegen, wie wir da und dort bestehende Probleme lösen können. Wir schauen, wie wir uns als Vertreter der Väter gesellschaftlich einbringen können. Bei politischen Debatten laden wir auch zu Pressekonferenzen oder schreiben Pressemitteilungen. Wir haben unter anderem den Angriff auf den Rabbiner in Schöneberg scharf verurteilt und mit unserer letzten Pressemitteilung sprechen wir uns gegen das Betreuungsgeld aus.

Mit was für Themen kommen die Männer zu den Gruppentreffen oder was wird besprochen?

Wir besprechen sehr viel: Armut, Harz 4, Gewalt, Drogen, Spielsucht. Wir besprechen aber auch die Rolle der Frauen in der Gesellschaft oder unterhalten uns über Institutionen, von der Kita und Schule über Polizei und Gerichte bis zum Jobcenter. Wir sind aber keine reine Gesprächsrunde, das würde sehr schnell langweilig. Wir wollen pragmatisch handeln, bringen uns in Kitas und Schulen ein. Seit einigen Jahren veranstaltet der Aufbruch Neukölln e.V. zum Beispiel Elternversammlungen an Schulen in drei Sprachen. Auf deutsch, türkisch und arabisch. Die Einladungen werden von Mitgliedern der Vätergruppe verteilt. Wir haben aber auch die Kampagne „Männer gegen Gewalt“ initiiert. Wichtig ist, dass die Väter Teil sinnvoller Projekte sind, ihre Fähigkeiten einbringen können und sich dadurch mit ihrer Umgebung identifizieren.

Wie viele Männer kommen bei jedem Treffen und wie alt sind die Teilnehmer?

Es sind immer um die 30 Männer da. Der Jüngste ist 20, der Älteste ist 70. Manchmal kommen aber auch Frauen.

Warum ist der Jüngste dabei?

Er will besser sein als sein Vater, wenn er eine Familie gründet.

Was lernen die Männer in der Vätergruppe?

Zuhören, ausreden lassen, vielfältig denken. Am Anfang dachten viele in schwarz oder weiß. Sie sind aber auch toleranter geworden, haben gelernt mit Wut und Enttäuschung umzugehen und andere Lösungen zu finden.

Wie hat sich das Selbstbild der Männer verändert?

Öffentlich stehen türkische Männer nicht so gut da. Es gibt viele Vorurteile. Sie gelten als Ehrenmörder, Gewalttäter oder Holzklötze Anatoliens, weil niemand mit ihnen spricht. Durch die Gruppe haben sie an Selbstvertrauen gewonnen. Sie sind gelassener, positiver, vorbildhafter.

Als wir anfingen, haben sie Fehler nicht gesehen. Viele sind selbst mit Gewalt aufgewachsen oder haben keine Wertschätzung für eine gesunde Kommunikation gelernt. Als ihnen klar wurde, wo Fehler gemacht wurden, kamen Gefühle hoch. Einige haben geweint und sich entschuldigt. Durch das Angebot haben sie kapiert, den Ball in die richtige Richtung zu spielen.

Ich habe gelesen, dass Sie sich auch mit dem Begriff ‚Ehre’ auseinandergesetzt haben und ihren Teilnehmern einmal die Aufgabe gaben, das Wort ‚Ehre’ zu beschreiben. Nach vierzig Minuten hatte keiner einen Satz dazu.

Mit dem Begriff ‚Ehre’ wird ständig operiert und gerechtfertigt, aber innen ist er hohl. Er wurde einfach von den Großeltern oder Eltern übernommen, ohne zu wissen oder zu hinterfragen, was Ehre ist. Wir haben dann einen Ehrenkodex entwickelt. Jedes Wesen hat Ehre oder Stolz.

Wie haben Sie den Begriff gefüllt? Was ist Ehre?

Hilfreich sein, nicht wegschauen, solidarisch sein, teilen, interessiert sein, nicht hinter dem Rücken anderer reden, nicht auf das Geld anderer schauen und nicht neidisch auf den Erfolg anderer zu sein. Und noch viel mehr.

Sie arbeiten und leben in Neukölln. Medial ist Neukölln ein Problembezirk, er wird immer herangezogen, wenn es um Migration und Integration geht. Wie sinnvoll finden Sie die Debatten?

Ich finde es wichtig, dass die Probleme genannt werden aber, der Ton macht die Musik. Mir gefällt oft die Art und Weise, wie auf die Probleme eingegangen wird nicht. Es wird viel über die Menschen gesprochen, aber nicht mit ihnen. Ich finde es wichtig, dass wir handeln, statt immer nur zu reden, zu jammern, zu nörgeln. Wir sind Opfer der Bürokratie und blockieren uns selbst.

Wie groß sind denn die Probleme in Neukölln?

Das größte Problem ist, dass zu viele Menschen, von Transferleistungen leben müssen und es nicht wollen. Das erlebe ich in meiner Arbeit regelmäßig, dass die Menschen darunter leiden. Für viele ist das Jobcenter ein Albtraum.

Bis Anfang der 1990er Jahre waren die meisten Menschen, die Vertreter der ersten Generation, auch wenn sie nicht so gut deutsch konnten, in Lohn und Brot. Sie hatten eine sinnvolle Tätigkeit, konnten konsumieren und ihre Familie versorgen. Die Kinder der zweiten und dritten Generation sind in Deutschland geboren und haben deutsche Pässe, fallen aber auf und sind ohne Perspektive.

Was ist passiert?

Früher gab es viel mehr Arbeitsplätze für ungelernte Arbeitskräfte. Nach der Wende wurden tausende solcher Arbeitsplätze abgebaut, viele Fabriken, auch in Berlin und Neukölln, haben geschlossen oder produzieren in Osteuropa. Aber darüber wird nicht geredet.

Warum ist das Jobcenter für viele ein Albtraum?

Weil sie sich wie Bittsteller fühlen und Vorwürfe zu hören bekommen. Der Umgang mit den Kunden ist nicht sehr freundlich. Viele wollen aber gerne von eigener Arbeit leben.

Ein Problem, das immer wieder genannt wird, ist Bildungsferne.

Bildung ist der Mutterschlüssel. Bildung ist sehr wichtig, aber Bildung allein bringt es auch nicht. Ein Problem ist, dass auf viele Stellen, die einmal für Hauptschüler waren, sich heute Gymnasiasten bewerben. Bei 70 Bewerbern für eine Stelle, geht der Ausbildungs- oder Arbeitsplatz an einen Abiturienten. Neben der Bildung gibt es auch noch andere tragende Wände, menschliche Werte zum Beispiel.

Und viele haben auch nicht die Möglichkeit sich zu bilden. Viele sind Bildungsfern, weil sie sich Bildung nicht leisten können.

Was wünschen Sie sich für die Integrationsdebatte?

Als Erstes kann der Integrationsgipfel und die Islamkonferenz abgeschafft werden und stattdessen müssen Projekte, Gespräche und Kontaktmöglichkeiten lokal angebunden werden. So, wie es jetzt läuft, werden nicht die Menschen, um die es geht erreicht und es gibt keine Ergebnisse.

Bevor ich ins Jenseits befördert werde wünsche ich mir, dass die Gemeinsamkeiten statt die Unterschiede betont werden und wir nicht über du und ich, wir und ihr, sondern über uns reden.

Jeder ist ein Schatz und wenn es uns gelingt, aus dem Einzelnen die Schätze herauszukitzeln, dann bin ich glücklich.

Herr Erdoğan, die letzte Frage. An welchen Projekten arbeiten Sie für die Zukunft?

Wir planen gerade ein Antigewalt- und Antispielsuchtprojekt. Und auch mit der Sprachwoche habe ich große Pläne. Ich hoffe meine Kraft reicht.

 

Artikel erschienen am 27.11.2012 im tazblog M29 von unserer Autorin Elisabeth Wirth