Besoffen in Neukölln

Ein Absacker? Sowieso.

Ein Absacker? Sowieso.

Skurrile Nachteulen, mit denen man sich gemeinsam die Lichter ausschießt. Eine klassisch-bizarre Neuköllner Kneipentour erlebt von Gast-Blogger Kennedy Calling.

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Donnerstag, 11. September 2014

Text: kennedycalling.de

Indian Summer. In der D*straße sitzen wir vorm V. und trinken zünftig Biere. Aus der Bar tönen die Fehlfarben mit Liedern von der „Xenophobie“, der Barmann ist ein cooler Hund.

Ich lerne den A. kennen, der mir von seiner Freundin in N. erzählt, und dass das diesmal was Gescheites wäre und wie schwierig es sei, die Zukunft fürs gemeinsame Glück zu gestalten. Nur ein paar Getränke weiter wird er aber spitz wie ein Teenager und rammelt mit hervorquellenden Äuglein jedem Kreuzköllner Röckchen hinterher, nicht ohne uns dabei ständig im Detail über seine durch den frischen Rausch gewonnene Geilheit informiert zu halten, indem er uns spitzbübisch zuzwinkert.

Burger, Schwarzbier, Sorbonne und die Brigade

In der W*Straße essen wir was in einem neuen Burgerlokal, das in seiner deplatzierten Cocktailhaftigkeit schon früh zum Scheitern verurteilt scheint. Die Leere macht das deutlich. Am Code vorbei eröffnet, es ist hier halt noch nicht Friedrichshain. Die anderen trinken allen Ernstes mehrere große Schwarzbiere zu ihren Burgern, während ich mich an einem soliden Pils festhalte, um nicht vorzeitig einzuschlafen. G. erzählt mir, dass er an der Sorbonne Philosophie studiert hat, Heidegger mit Doktortitel. Ich werde noch mal kurz wach und staune. Er ist aus Argentinien und sehr sympathisch. Ruhig, nett und unprätentiös und die ganze Nacht lang einigermaßen nüchtern, scheint‘s.

Eine schwarz vermummte Brigade zieht durch die W*Straße, um lautstark und wutentbrannt Solidarität für die Flüchtlinge vom Oranienplatz einzufordern. Plötzlich wirkt nicht nur das Cocktailburgerlokal deplatziert, jetzt wirken auch wir fehl am Platze, weil fehlfarbig betrunken im Kontrast zur schwarzen Nüchternheit der Gegebenheiten. Der Voyeur wird zum Nicht-Täter. Die Aktivisten sind aber nur wenige und werden gleich nach dem Vorüberziehen wieder von der fröhlichen Touristen-Hipster-Studenten-Alkiszene zur ephemeren Szenenanekdote verdrängt. As if it never happened.

Tüdeldü-House trifft auf dylanesque Gelassenheit

Endlich im G. können wir uns dann wieder aufs Wesentliche konzentrieren und dort spielt der DJ einen super Song und ich denke mir, musikalisch wird heute Abend alles richtig gemacht, langsam habe ich auch Lust aufs Tanzen. Der Song ist aber der letzte seiner Art, es folgt ein fundamental schlechteres Set, langweiliger Tüdeldü-House. Ich widme mich also lieber den Mitgästen und beobachte eine Weile lang einen jungen Mann, der ziemlich weise aussieht und schätze mal, das ist ein Dichter. Er hat feine Gesichtszüge und so eine dylanesque Gelassen- und gleichzeitig Ernsthaftigkeit und sitzt da in der Bar und denkt irgendwas Wertvolles.

Draußen vor der Tür ist der Kiez weiterhin in praller Feierlaune, ich gebe einem Bettler all mein Kleingeld, das er dann zwei, drei Meter weiter erstmal in aller Ruhe zählt. Nach solchen Nächten kommt man immer blank zurück, es sei denn, man war kurz vor Absch(l)uss noch mal vorsorglich beim Geldautomat. Dann findet sich am nächsten Tag ein Riesenbatzen Geld im Portemonnaie (es sei denn, man steckt knietief im Dispo).

Der Barmann kippt und ich gehe

Der Barmann im Ä ist auch schon wieder so ein cooler Hund in Form eines alten Bekannten, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Wenn auch zumindest meinerseits stark alkoholisiert, empfinden wir dennoch echte Freude, man trifft sich ja nur noch so selten. Und ja, auch hinter der Bar wird ordentlich was weggekippt, er bestätigt das auf meine journalistisch ermittelnde Nachfrage.

Dann wird es auch schon bald Zeit zu gehen, taktisch gesehen, auch wenn ich der erste aus der Runde bin. Das ist gelernt, vermeidet aber in diesem Fall dann doch nicht den Fehlstart am nächsten Morgen und ein entsprechend müdes Restwochenende mit den einschlägigen Reflektionen.

Dabei fällt mir dieser großartige Artikel von Benjamin von Stuckrad-Barre in der WELT wieder ein. Er heißt “Nüchtern“.

Der Text erschien erstmals am 9. September 2014 auf Kennedy Calling.