Vom Gründerzeitbau in den Kibbuz

Familienfeier im Hause Bonwitt. Ganz rechts, sitzend: Caroline Bonwitt. Rechts, stehend: Louis Bonwitt

Spuren jüdischen Lebens gibt es in Neukölln heute so gut wie keine mehr. Unsere Autorin Dorothea Kolland fand sie dann aber doch, nur ganz woanders: Sie traf die Holocaust-Überlebende Hanna Nehab in einem Kibbuz in Israel. (mehr …)

Donnerstag, 6. Juni 2013

Hanna Nehab geb. Aaron lernte ich im Sommer 1988 kennen, als ich in Israel die Geschichte des jüdischen Lebens in Neukölln erforschte. Durch Aufrufe, Netzwerke und Zufälle waren wir auf einige Menschen aus Neukölln gestoßen, die dort lebten – meist als sehr junge Menschen dorthin ausgewandert.

Im Kibbuz Hasorea

Hanna Nehab war so ein Zufall. In den Kibbuz Hasorea war ich gekommen, weil sich von dort Ursel Genossar (Neumark) gemeldet hatte, die ihre Kindheit und Jugend in der Hasenheide 68 verbracht hatte und aktiv in der Jüdischen Jugendbewegung gewesen war. Der Kibbuz in der Nähe von Haifa war von jungen Berliner Juden, alle von der Jugendbewegung beeinflusst, gegründet worden. Manches Ersparte, das eigentlich für den Druck der Dissertation gedacht war, wurde für eine Lederjacke (man meinte, Kibbuzim bräuchten Lederjacken…) oder Landwirtschaftsgerät ausgegeben.

In der großartigen Bibliothek des Kibbuz (der heute nicht schlecht von der Zierfisch-Zucht lebt) war auch ein Archiv der vielfältigen Strömungen der Jüdischen Jugendbewegung aufgebaut worden, gehütet von einer kratzbürstigen alten Dame. Etwas beleidigt brummte sie, als sie von meinem Rechercheanliegen erfuhr, dass sie ja auch aus Neukölln komme. Zu einem kurzen Gespräch konnte ich sie nach anfänglich großer Distanz doch noch gewinnen. Die Kratzbürstigkeit wurde zur Schlagfertigkeit und Spottlust, wenn auch immer wieder in Traurigkeit fallend. War doch ihr Mann, mit dem sie sich aus Berlin in das Abenteuer der Gründung des Kibbuz gestürzt hatte, vor kurzem gestorben. Das Erzählen der Geschichte wühlte ihren Schmerz neu auf. Von jener Hanna Nehab erfuhren wir von jüdischem Leben in Neukölln, vom dem heute nichts, aber auch gar nichts mehr übrig ist.

Wohnhaus von Louis und Caroline Bonwitt, Ecke Hasenheide/Südstern

Das prächtige Eckhaus am Südstern

Hanna Nehabs Familie lebte in dem heute noch existierenden prächtigen Eckhaus Hasenheide/Südstern (Nr. 61), dem „ersten“ Neuköllner Haus, die Großeltern hatten eine der ganz seltenen 6-Zimmer-Wohnungen. Der Großvater Louis Bonwitt war Privatier und seinem Bruder Moritz gehörte die Unions-Brauerei auf der anderen Straßenseite. Großvater Bonwitt war religiös hochgebildet und gehörte zur liberalen Synagoge in der Lindenstraße, die Rixdorfer Synagoge war ihm zu konservativ. Man lebte koscher, die kleine Enkelin Hanna hatte das Tischgebet zu sprechen.

Vom Lebensraum der Bonwitts wissen wir über Fotos, die uns Hanna Nehab schenkte und die heute zu den Kostbarkeiten des Museums Neukölln gehören: Sie spiegeln die Atmosphäre der Bonwitt-Wohnung in ihrer ganzen Gründerzeit-Pracht und das Leben einer großen, sehr familientraditionsbewussten Familie wider, die ihren Stammbaum 300 Jahre zurückverfolgen konnte – nicht in Rixdorf natürlich, aber in Rixdorf-Neukölln sah sie ihre Zukunft.

Die Familie ist ausgelöscht. Die alten Bonwitts starben bereits Anfang der 1920er Jahre. Die nächste Generation wurde von den Nazis vernichtet, wie z.B. Hannas Mutter, die 1942 in Riga umgebracht wurde. Die Familie und das Haus stehen für vernichtetes jüdisches Bürgertum. Dort lebten auch die Tanten des Schriftstellers Stefan Heym und er selbst für einige Zeit, dort lebten Mildred und Avid Harnack, als Mitglieder der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ hingerichtet.

Auf der „Schwarzen Liste“

Hanna ging andere Wege als ihre reiche bürgerliche Familie: Nach dem Besuch des heutigen Albert-Schweitzer-Gymnasiums schrieb sie sich für Geografie an der Humboldt-Universität ein. Ihre politische Orientierung suchte sie links bei den „Kameraden“, als „Deutsch-jüdischer Wanderbund“ 1916 gegründet, und bei den „Werkleuten“. Es ging ihnen um eine Synthese jüdischer Traditionen und gesellschaftlichem Engagement, gepaart mit dem in der Jugendbewegung manifestierten Bedürfnis nach antibürgerlichem, alternativem Leben.

Die Suche nach ihren Wurzeln im Judentum ließ die „Kameraden“ in Berührung mit einer gänzlich anderen Welt, der Welt der Ostjuden im Scheunenviertel treten, wo sie die großen Traditionen jiddischer Kultur und lebendigen jüdischen Geisteslebens kennenlernten. Insbesondere faszinierte sie das „Volksheim“ in der Auguststraße, das aus einer philantropischen Bewegung für die Ostjuden, unter Einfluss des Religionsphilosophen Martin Buber, entstanden war. Hier lernten sie Hebräisch, hörten Vorlesungen zu jüdischer Philosophie und Religion. Der Schatz des Erfahrungswissens des Judentums faszinierte sie, nicht zuletzt auch ökonomisches und juristischen Wissen und Denken. Das Verhältnis von „Deutsch“- und „Jüdisch“-Sein war ihr großes Thema.

Nach der Machtergreifung der Nazis kam sie auf die „Schwarze Liste“, weil sie mit dem Antifa-Abzeichen („Antifaschistische Aktion“, einem Zusammenschluss verschiedener linker Gruppen) offen herumlief. Kommilitonen und Professoren feindeten sie an. Hanna Nehab studierte Geografie, die meisten ihrer Kommilitonen seien Anhänger von Gregor Strasser, einem „pseudo-sozialistischen“ frühen Hitler-Anhänger (1934 im Kontext des „Röhm-Putsches“ ermordet) gewesen. Nach dem 30. Januar holte sie Teile ihrer Bibliothek von zuhause ab, um bei möglichen Hausdurchsuchungen ihre Mutter nicht zu gefährden, und versteckte sie im geografischen Institut. Kommilitonen wie Hausmeister hätten dies gewusst, und keiner habe sie verpfiffen – obwohl sie sichtbar mit dem Antifa-Abzeichen ausgestattet war.

Garten statt Uni

Dennoch, eine Perspektive an der Uni und in Deutschland schien es für Hanna Nehab nicht zu geben. So tauschte sie die hehren Alma-Mater-Hallen mit einer Gartenbau- und Landwirtschaftsschule in Brandenburg. Sie war Teil der „Hachschera“, mit der die Jüdischen Gemeinden junge Leute fit zu machen versuchten für eine eigene Existenz nach der Auswanderung. Mit erbetteltem Geld kauften sie Grund und Boden und gründeten 1935 ihren Kibbuz. Trotz unglaublich harter Existenzkämpfe waren sie froh, eine neue Heimat gefunden zu haben: „Irgendwie ist man in Deutschland nie den Gedanken losgeworden, dass man anders ist. Man hatte immer das unterschwellige Gefühl, besser sein zu müssen als die anderen, um überhaupt akzeptiert zu werden. Erst in Israel konnten wir ohne dieses Gefühl leben“, erzählte Hannas Freundin Ursel Genossar.

Auf dem kleinen Friedhof in Hasorea steht ein kleines Mahnmal. Auf sechs Säulen sind Namen eingraviert: Namen der Verwandten ersten Grades (also Eltern und Geschwister), die Kibbuz-Mitglieder durch den Holocaust verloren haben. Es sind mehr als 200 Namen.

Hanna Nehab (ganz links) im Gespräch mit Ursel Genossar und Dorothea Kolland, Hasorea (1987); Foto: Kolland.

 

Quellen:
Kolland, Dorothea: Dokumente einer vernichteten Welt. In: Gösswald/ Thamm: Erinnerungsstücke. Berlin (1991), Hentrich.
Kolland, Dorothea: Mit dem „Zupfgeigenhansl“ von der Hasenheide in den Kibbuz. In: „Zehn Brüder waren wir gewesen“. Berlin (1988), Hentrich.

Dieser Text ist der dritte Teil der Porträt-Serie „(Zerstörte) Vielfalt in Neukölln“ in der Dorothea Kolland, ehemalige Kulturamtsleiterin in Neukölln, einerseits an Menschen erinnert, die von den Nazis umgebracht oder vertrieben wurden. Darüber hinaus stellt sie Neuköllner vor, die für die Potenziale der Verschiedenheit und Vielfalt im Bezirk stehen. „Lebende Argumente gegen Heinz Buschkowsky“, nennt sie Dorothea Kolland selbst.

Hier entlang zum ersten und zweiten Teil der Serie.