Die Stadt als Orchester

Kalle (Max Kidd, oben) und Frederik (Bjoern Radler, unten) (Foto: Basis-Film Verleih GmbH)

Kalle (Max Kidd, oben) und Frederik (Bjoern Radler, unten)

Mit „Neukölln Wind“ hat der junge israelische Regisseur Arsenny Rapoport einen scharfsinnigen Spielfilm über die Folgen von Verdrängung gedreht. Mit kleinem Geld und großen Ambitionen.
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Montag, 11. Januar 2016

„Im Wind ist es, als wäre jedes Haus ein Instrument. Und so eine Stadt ist ein ganzes Orchester“, erklärt Frederik (Bjoern Radler) seinem einstigen Freund Kalle (Max Kidd) über den Dächern Neuköllns. Die beiden könnten unterschiedlicher kaum sein. Während Frederik obdachlos ist und scheinbar ziellos durch die Straßen Neuköllns zieht, verschachert Kalle als Immobilienmakler in Neukölln Häuser an Großinvestoren. Die beiden eint jedoch ein ähnliches Schicksal. Als Kinder wurden sie mit ihren Familien aus ihrem Wohnhaus in der Weserstraße vertrieben. Der nun erwachsene Kalle kauft das Haus seiner Kindheit zurück – jedoch nur um es dann gewinnbringend wieder zu verkaufen. Fressen oder gefressen werden – das scheint Kalles Lebensmotto zu sein.

Gentrifizierung und Segregation sind die zentralen Themen

Der Film greift das akute und naheliegende Thema Gentrifizierung auf. Was passiert mit einem Kiez, dessen ursprüngliche Bewohner mehr und mehr verschwinden? Um Fragen wie diese, dreht sich der Film von Arsenny Rapoport. Episodenhaft und ohne klassische Erzählstruktur begleitet der Film des 32-Jährigen unter anderem auch eine Drogensüchtige, einen holländischen Touristen, eine Fotografin oder den inzwischen verstorbenen bekannten Neuköllner Obdachlosen „Schmitti, der als einziger sich selbst spielt. Es ist meistens kalt, nass und düster. Doch in unerwarteten Momenten keimen Wärme und Zuversicht auf. In Neukölln liegen Schönheit und Scheußlichkeit nah beieinander – und warten an jeder Straßenecke.

Die drogensüchtige Anna (Alex Anasuya) will vor allem eins: sich ihrem Rausch hingeben

Die drogensüchtige Anna (Alex Anasuya) will vor allem eins: sich ihrem Rausch hingeben

Die Bilder und Einstellungen sind eine klare Hommage an Wim Wenders „Himmel über Berlin“. So sitzt Kalle nicht nur gern über den Dächern Neuköllns, eines Nachts erscheint ihm auch ein Engel. Diese tauchen ja eigentlich auf, wenn jemand gerettet werden muss. Doch Kalles Engel segelt in Gestalt einer betrunkenen Frau mit seinem Kumpel und einer Flasche Wodka davon. Vielleicht will Kalle auch nicht gerettet werden?

Wenige Mittel – große Ambitionen

Drei Jahre hat der israelische Filmemacher Rapoport gebraucht, um „Neukölln Wind“ fertigzustellen. In dieser Zeit hat er die einzelnen Szenen immer wieder überarbeitet. Seit fünf Jahren lebt der Israeli in Berlin – davon vier in Neukölln. Der Bezirk faszinierte ihn so sehr, dass er nach nur einem Jahr beschloss, diesem ein filmisches Denkmal zu setzen. Mit einem kleinen Team und großen Ambitionen zog er durch Neukölln. Drehte an Orten wie dem alten Frauenklinikum am Marienfelder Weg oder dem Hermannplatz. Da sie meist keine Drehgenehmigung hatten, mussten sie oft improvisieren und mit möglichst wenig Equipment an die Drehorte gehen. Deswegen ist der Film auch in großen Teilen nachsynchronisiert.

Regisseur Arsenny Rapoport (Mitte) bei der Filmpremiere im Il Kino am 7. Januar 2016 (Foto: Basis-Film Verleih GmbH)

Regisseur Arsenny Rapoport (Mitte) bei der Filmpremiere im Il Kino am 7. Januar 2016

Wenn eine Stadt ein Orchester ist und die Häuser sind die Instrumente, dann sind die Bewohner wohl die einzelnen Töne. Und deren Melodie hat der junge Filmemacher ohne nennenswertes Budget oder tiefe Kenntnisse der Stadt faszinierend scharfsinnig eingefangen. „Neukölln Wind“ ist daher der erste Spielfilm eines Filmemachers, von dem wir in Zukunft mit Sicherheit noch einiges hören werden.

Fotos: Basis-Film Verleih GmbH

Das Drama „Neukölln Wind“ läuft noch bis Ende Januar im Il Kino, Nansenstr. 22, 12047 Berlin

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