1970: Der britische Regisseur Peter Watkins dreht den fiktionalen Dokumentarfilm Punishment Park (dt. Strafpark). Er spielt in der nahen Zukunft. Der Vietnamkrieg ist eskaliert und die USA befinden sich in einer Krise. Es werden Notstandsgesetze erlassen, die vorbeugende Verhaftungen von politischen Gegnern erlauben. Dazu gehören Bürgerrechtler, Frauenrechtler, Künstler, Kriegsdienstverweigerer. Ein gnadenloses Tribunal lässt ihnen die Wahl zwischen drastischen Gefängnisstrafen oder dem Strafpark in der kalifornischen Mojave Wüste. Wer hier innerhalb von drei Tagen eine weit entfernte amerikanische Flagge erreicht, ist wieder frei. Einzige Hindernisse: weder Nahrung noch Wasser und eine Horde Polizisten, die sie einzufangen versucht. Es ist ein Wettlauf um Leben und Tod.
2018: Der Afro-Amerikanische Künstler Donald Glover alias Childish Gambino bringt ein Musikvideo zum Song This is America heraus. In einer Lagerhalle singt und tanzt er zu heiteren Klängen. Im nächsten Moment zieht er eine Waffe aus der Hosentasche und jagt dem Gitarrespieler neben sich eine Kugel durch den Kopf. Der Sänger bewegt sich weiter singend und tanzend durch die Halle, weitere Tänzer kommen hinzu, ein Gospelchor stimmt mit ein und wird unvermittelt von Childish Gambino mit einem Maschinengewehr weggeballert. Weiter Tanzen, weiter Singen – alles cool! Im Hintergrund fangen Autos an zu brennen, Menschen rennen wild umher. Am Ende des Videos flieht der Sänger selbst mit weit aufgerissenen Augen panisch vor ihn verfolgenden Polizisten.
Peter Watkins ist unbestreitbar aktuell
Was haben diese beiden Werke mit einander zu tun? Fragt man Kris Woods, den Kurator der aktuellen Peter-Watkins-Retrospektive im Neuköllner Wolf Kino, so einiges. Er sieht eine Parallele zwischen den damaligen studentischen Unruhen, den Anti-Kriegs-Demos und den heutigen Bewegungen gegen Rassismus und Waffen. Glover nutze hier das popkulturelle Format schlechthin, um gesellschaftliche Spannungen, institutionalisierte Gewalt und die Ablenkung davon durch Entertainment aufzuzeigen. Eine Verbindung von Form und Inhalt, wie sie der Regisseur und Medienkritiker Peter Watkins bereits seit den 60er Jahren in seinen Filmen etabliert und konsequent durchgezogen hat. Sein Werk einem breiten Publikum zu präsentieren rührt daher nicht nur aus Woods eigener Faszination für den Pionier des Films, sondern gerade aus dessen unbestreitbarer Aktualität.
Im Gegensatz zu Childish Gambino genießt Peter Watkins heute nämlich keine große Bekanntheit, seine Filme sind – zumindest in Deutschland – kaum zu sehen. Umso großartiger, dass das Team des Wolf Kino das filmische Werk eines Ausnahmeregisseurs im Mai und Juni in großem Umfang präsentiert. Die Beschaffung der Filme aus verschiedenen europäischen Archiven war aufwendig. Für einige wurden extra deutsche Untertitel in Kooperation mit einem Neuköllner Postproduktionsstudio erstellt. Zu allen Filmen gibt es bei der ersten Vorstellung eine Einführung von Filmemachern und -theoretikern. Daneben gibt es Veranstaltungen mit einem Fokus auf Watkins Medienkritik und die Potentiale des Films. Die finanzielle Unterstützung durch den Hauptstadtkulturfonds machte auch eine Publikation zu Watkins Gesamtwerk möglich.
Ausstrahlung von War Game 1965 verboten
Der Retrospektive-Titel Wahrsager verweist auf das Visionäre in den Arbeiten des Briten. Sein Langfilm Culloden (1964) für den Sender BBC war anders als alles, was man bis dahin gesehen hatte. Im Stile einer Fernsehreportage analysierte er die historische Schlacht bei Culloden zwischen englischen Regierungstruppen und Jakobiten. Die Mischung aus dem Einsatz von Laiendarstellern, Reenactment, Voice-Over, Interviews, Hand-Kamera und dem Missachten der Vierten Wand erzeugte eine intensive bis verstörende Wirkung bei den Zuschauern. Diese Technik verwendete er auch bei seinem nächsten Film War Game (1965) über die Folgen eines atomaren Angriffs auf Großbritannien. Das war den Verantwortlichen dann wohl doch zu nah an der Realität – die Ausstrahlung wurde verboten.
Watkins‘ radikale Dokudramen brachen im Brechtschen Sinne mit dem Kino als Illusionsmaschine. Seine Filme offenbarten Prozesse historischer Mythenbildung, Folgen weltweiter Militarisierung, der Manipulierung durch Massenmedien und nahmen heutige Phänomene wie Fake-News, Folgen globaler Finanzkrisen und staatlicher Sicherheitsmaßnahmen vorweg.
Woods und sein Team haben ein dichtes und abwechslungsreiches Programm zusammengestellt, in dem es neben Filmegucken auch ums über Filme sprechen geht. So kann man sich in einem Workshop dem Begriff „Monoform“ nähern. Watkins beschreibt damit die Manipulation und Verbreitung konventioneller Erzählformen in Film und Fernsehen. Oder man verbringt gleich den ganzen Nachmittag bis zum Abend im Kino beim Screening des Mammutwerks La Commune (1999) über die Pariser Kommune. Mit über sechs Stunden ist der Film deutlich länger als ein Musikvideo – dafür kann man sich mit vier der über 200 Beteiligten bei Snacks und Getränken über den Prozess und die Erfahrungen dieses außergewöhnlichen Projekts unterhalten.
Peter Watkins‘ Filme sind herausfordernd, schockierend und bereichernd – das sollte man nicht verpassen.