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Keiner wollte sie je haben und doch ist sie mitten unter uns. Unaufhaltsam breitet sie sich aus. So oft ist darüber in letzter Zeit debattiert worden, dass sie einem gefühlt schon zu den Ohren herausquillt. Ein Kommentar.

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Text:

Dienstag, 2. August 2011

Wenigstens die Rechtschreibkorrektur von Word kennt sie noch nicht, die Gentrifizierung und zum ersten Mal kann ich mich ganz verschmitzt über die rote Unterstrichelung eines Wortes freuen, fühle ich mich doch irgendwie in meiner Abneigung bestätigt.

Es wird heftig gentrifiziert in der deutschen Hauptstadt, überall wimmelt es nur so von Gentrifizierern und Gentrifizierten. Der Prenzlauer Berg ist längst zur No-Go-Area mutiert, Friedrichshain und Kreuzberg sind kurz davor umzukippen und nur Neukölln leistet noch erbittert Widerstand. Nur gegen wen soll Widerstand geleistet werden? Wer hat uns diese unsäglich komplizierte Buchstabensuppe nur eingebrockt? Wer ist schuld?

Diskussionsrunden werden einberufen (Titel: „Wem gehört die Stadt?“ – Untertitel: „Können sich Deine Freunde Deine Nachbarschaft bald nicht mehr leisten?“ – Unterzeile: „Es gibt fast keine leeren Wohnungen mehr.“). Die Wände werden verziert („Klasse gegen Klasse“, „Miete? Scheiße!“), Banner aufgehängt („gegen Aufwertung + Verdrängung“) und Aufkleber gestaltet („Berlin doesn’t love you“). Aber wen soll man denn nun an den Pranger stellen? Der Prenzlauer Berg hat die Schwaben, wen wollen wir für Neukölln? Die Künstler? Die Zugezogenen? Die Touristen?

„Die vielen Zugezogenen nerven.“

Weichselplatz-Protest

Die Problematik der Schuldfrage bei der Gentrifizierung sei durch eine kurze Anekdote ein wenig veranschaulicht. Ein guter Freund hatte seine Wohnung in Kreuzberg kürzlich untervermietet. Der Untermieter bei der Rückgabe der Wohnung nach seiner Meinung zum Leben in Kreuzberg befragt, meinte sinngemäß: „Unglaublich, toll, der Wahnsinn. Aber die vielen Zugezogenen nerven langsam.“ Der Mann lebt seit 18 Monaten in Berlin.

Natürlich bringen diese unglaublichen rasanten Veränderungen der Stadt, mit alle seinen Facetten unter den Deckmantel der Gentrifizierung gezwängt, neben den oft bewusst ignorierten positiven Aspekten, leider auch viele negative Aspekte mit sich. Und natürlich möchte niemand diese negativen Aspekte wirklich haben.

Niemand will Mietsteigerung

Niemand will, dass Menschen, die seit über 10 Jahren in ihrer Wohnung wohnen, jetzt auf einmal ihre gewohnte Umgebung verlassen müssen. Niemand will, dass im Internet Neukölln als „very save investment“ beworben wird und sich Investoren aus reiner Profit- und Geldgier auf Neukölln stürzen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an dessen soziale Gefüge zu verschwenden. Und niemand möchte eine Mietsteigerung von über 23 Prozent bei Neuvermietungen (über Immobilienscout24.de) in den letzten drei Jahren in Nordneukölln (siehe taz).

Man kann aber anderen Menschen nicht vorwerfen, wo sie hinziehen und welchen Lebensstil sie pflegen wollen. Prenzlauer Berg ist im Übrigen ja auch nicht zur totalen Spießerhölle mutiert, auch wenn sich dort der allgemeine Irrsinn eben in Mamis und Papis manifestiert, die ihr zweijähriges Kindlein in einen Chinesischkurs packen. Deswegen aber gleich ein ganzes Viertel unter Generalverdacht zu stellen ist mindestens ebenso irrsinnig.

Ernsthaftes Engagement statt Fremdenfeindlichkeit

Seinen eigenen Frust aber auf „die Schwaben“ abzuwälzen, um über „die Spanier“ zu „den Touristen“ im Allgemeinen überzugehen, ist so dermaßen absurd, dass man dem eigentlich nur mit Sarkasmus begegnen kann. Angesichts der Ernsthaftigkeit mit der bisweilen solche Standpunkte vorgetragen werden, bleibt einem das Lachen aber gelegentlich im Hals stecken. Solche Leute sollten sich doch am besten einmal im politischen Lager von NPD, Pro Deutschland etc. umschauen. Dort werden ganz ähnliche Denkstrukturen an den Tag gelegt. Wem das gesellschaftlich zu riskant ist, der findet vielleicht in der Münchner Klamottenmarke „Fuckuall“ den ersehnten Ausgleich.

Wer sich aber ernsthaft mit der Problematik der Gentrifizierung auseinandersetzen möchte und wem es nicht nur darum geht, die eigenen Freunde alle in der Nachbarschaft zu haben, dem muss erst einmal klar werden, dass dieses Problem in erster Linie eine Systemfrage und ziemlich eng mit den beiden Grundrechten auf Freizügigkeit und Privatbesitz gekoppelt ist. Wer dahingehend etwas verändern möchte, muss die Politik bewegen und nicht den Hausbesitzer anscheißen. Und während man den Klassenkampf propagiert und auf die Touris schimpft, ist einem doch leider völlig entgangen, dass die Gentrifizierung schon längst das erste Opfer in Neukölln gefordert hat: Die Alkoholikertruppe vom Hermannplatz hat sich auf Grund der dauerhaften Polizeipräsenz wohl ein anderes Plätzchen suchen müssen.

Damit die Meinungsvielfalt gerade bei diesem heiklen Thema gewahrt bleibt, werden hier demnächst einige Artikel in Kooperation mit dem tazblog M29 zum Thema „In welchem Kiez wollen wir leben“ erscheinen.