Text: lislbar
Wir stellen uns jetzt alle einmal mit ganz viel Mühe vor, es gäbe so etwas wie einen Untergrund. Man läuft einen langen Gang entlang, es riecht besonders fein nach Baustoffen, die man, ohne größere Kenntnis von Baustoffen, in keinem Fall als „gesund“ bezeichnen würde. Das Licht ist spärlich und wird auch immer weniger. Leuchstoffröhrenröcheln noch und nöcher. Das Geschmiere auf den Fliesen lässt sich bestimmt hübsch abfotografiert in irgendeiner feinen Galerie in Berlin Mitte gut an den Mann bringen. Ob sich das frech gezackte RAT-Grafitto an der Wand auf den penetranten Geruch nach Mäusepisse bezieht, weiß wohl nur der Künstler selbst. Vielleicht nennt sich der Urheber einfach auch nur RAT. In einer ach so verrückten Untergrundwelt ist ja bekanntlich alles möglich. Die Ratte gibt auch ein hübsches Bild ab, denn Ratten leben, wie man weiß, meist im Untergrund. Das Betreten ist auf eigene Gefahr, versteht sich ja von selbst. Die Tür macht man zu, weil: dein Zuhause, Türe zu! Ganz am Schluss, eine Treppe samt Rampe aus Holzplanken. Mit Isolierband geklebt prangen darüber fett und leuchtorange die Worte „Im Weltall“.
Am Ende Treppe robben vier Leute auf den Knien über riesige Flächen aus Plastikfolie. Verschnittberge überall. Der Eine zeichnet etwas vor, jemand Anderes hält das Lineal fest. Aus zwei Laptop Boxen leiert Leonard Cohen seine liebe Litanei vom schmerzlich vermissten Liebhaber. Lover, Lover, Lover, come back to me. Auf Nachfrage wozu man hier über die Folie rutsche heißt es, dass die Kohlekraftwerke uns alle fertig machen werden. Genauer genommen unsere Lungen und dass man aus diesem Grund eine drei Meter große Lunge baue. Die dann auch funktioniert. Deshalb muss das alles ganz genau bemessen sein. Seit Tagen wird gerechnet und geschnitten. Aus den Boxen klagt inzwischen PJ Harvey über das Schicksal von Shaking England, der Mutter von qualmende Schloten und industrieller Revolution.
Leicht, aber angenehm irritiert läuft man weiter, an aufgetürmten Couchen und Einkaufswägen voll Zeugs vorbei. Überhaupt, überall Zeugs. Viel Zeugs. Seltsamkeiten, Holzlatten und rostige Bleche reihen sich an zusammengenagelte Tresenstücke und Fahrradteile. Schrauben, Muttern, Nägel. Markierungen auf dem Boden, hier und da ein Aufkleber. Hinter der nächsten Tür folgt ein dunkler Gang. Von der rechten Seite dröhnen tiefe Bässe durch die Wand. Wumm, Wumm, Wumm. Pause. Jemand lacht. Plötzlich von der linken Seite ein Jaulen und elektronisches Quietschen. Schlagzeug, Gitarre. Andauernd schief, aber irgendwie als Erlebnisvertonung ganz passend. Ein Mädchen mit Turban kommt aus den Toiletten und grüßt. Man fühlt sich etwas weniger fremd unter dem Neuköllner Asphalt. Inzwischen hat das Wumm, Wumm wieder eingesetzt. An der Wand im Gang lehnen mehrere Fahrräder zwischen Waschbetonklötzen. Irgendwo muss ein Mülleimer stehen der seit längerem eine Leerung verdient hätte. Seltsamerweise fällt das aber nicht wirklich unangenehm auf. Wie Karlsson vom Dach schon meinte „So etwas stört keinen großen Geist“ – erst recht nicht so tief unter der Erde.
Aus der angrenzenden Werkstatt dröhnt ein Lärm der ohrenscheinlich von großen Maschinen stammen muss. Eine johlende Gruppe drängt sich um den Eingang und plärrt vor Glück als ein lauter Knall ertönt. Kabämm – man habe eine Druckluftkanone aus Feuerlöschern gebaut. Damit sollen Schaumstoffwürfel geschossen werden, auf einem Theaterfestival. Blöd wäre jetzt nur, dass der Kompressor so laut wäre. Das wäre ja furchtbar unpassend, so ein Kompressordröhnen während einer Theateraufführung. Da muss sich eine Lösung finden, dass die Feuerlöscher den Druck halten, erklärt der stolze Konstrukteur. Aber das dürfte kein Problem werden. Von irgendwoher erklingt die „Sinfonie aus der Neuen Welt“ und es riecht nach Essen. Stimmengewirr all over the place und überhaupt scheint man vorgedrungen zu sein, zu einen warmen Kern, so was wie diesem Zion in Matrix, nur eben unter Neukölln. Glücklicherweise hat sich bisher kein De-Ja-Vú eingeschlichen, denn das wissen wir alle, ein De-Ja-Vú ist ein Fehler in der Matrix.
Der große Raum der sich eröffnet wird Dorfplatz genannt. Überhaupt beschleicht einen immer mehr das Gefühl einem fast archaisch-urbanen Experiment des Zusammenlebens beizuwohnen. An aus Bierkisten, Holzresten und zusammen gezimmerten Tischen sitzen Gruppen von Menschen – schwatzend, trinkend. Auf dem Boden liegen Farbdosen und Pappe, in der Ecke steht eine überdimensionierte Milchtüte und mehrere Leute sind dabei, riesige Buntstift-Attrappen zu basteln. Das Mädchen mit dem Turban malt Verzierungen auf ein riesiges Schaukelpferd. Eine andere Gruppe baut aus alten Kabeln und Pappmaché einen Medusenkopf. In der Küche wird geschnitten und gehackt – große Mengen an Zwiebeln, Möhrchen und Tomaten. Ein paar Hunde laufen durch den Raum. Von der Decke hängen Lampen und bizarre Figuren, über dem Herd ein regenbogenfarbener Schirm. Der Platz ist gesäumt von Ateliers. Aus einem mit rotem Stoff abgeklebten Zimmer dringt eine swingende Klarinette. Dann eine Geige. Dann wieder Nichts und es bleibt nur Klassik-Radio aus der hölzernen Musiktruhe mit Stimmengewirr als Geräuschkulisse.
Plötzlich schlägt ein Gong und jemand schreit „Essen ist fertig!“. Bewegung überall, Teller werden aus dem Schrank geräumt, Zeugs weg und Stühle rangeschafft. An der Essensausgabe heißt es: erst mal wenig – dann nachholen, weil alle sollen ja satt werden. Das Bier wäre im Kühlschrank, man hätte einen gefunden der funktioniert. Das Spendenglas klingelt fröhlich. Hartgeld singt letztlich immer die schönsten Lieder. An der großen Tafel finden nicht alle Platz, aber wie Karlsson stört sich hier kein großer Geist an einem Sitzplatz auf dem Boden oder einer dürftigen Wohnzimmergarnitur aus drei zusammengerückten Bierkästen. Alles greift irgendwie ineinander, all das Zeugs beginnt Sinn zu ergeben und lebendig zu werden. Man erkennt, dass jeder Ort ein Zuhause sein kann, wenn es denn nur genug gleichgesinntes, geselliges Federvieh im Stall gibt. Auf dem Kühlschrank thront der auf seltsame Art zufrieden wirkende, ausgestopfte Fasan. Der stille König im Untergrund.
Der zuhause e.V. bietet Künstlern und Musikern erschwingliche Arbeitsräume im urbanen Raum. Das ZuHAUSE präsentiert sich mit einem Soli-Festival am 28./29.09.2013 auf dem Klunkerkranich. Hier geht’s zum Facebook-Event.
bohemian drips leben in einer schlecht gedämmten Wohnung am Ende der Hermannstraße, lesen wenig und schlafen lang. Periodisch besuchen sie Bierlokale und unterhalten das Jungvolk mit Schallplatten. Auch nach mehreren Haschtütchen erschließt sich ihnen die Pracht von Peter Gabriels Lebenswerk nur in geringem Maße. Sie setzten sich dafür ein, dass Helal geschlachtetes Zwiebelmett in handgewärmten Thermosflaschen zum Standard in jeder Neuköllner Imbissbude wird. Im ZuHAUSE sind sie seit Ende 2012 aktiv. Dort fröhnen sie mit fanatischer Begeisterung ihrem Hobby „Schwere Dinge tragen“.