Neukölln – plötzlich Vorbild

weristdieserdeutschland_neuWie lebt es sich hier eigentlich zusammen? Wie alltäglich ist Diskriminierung und wer genau ist davon betroffen? Zwei Wissenschaftler haben das untersucht und sagen: Deutschland kann sich mal ein Vorbild nehmen!

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Mittwoch, 28. Oktober 2015

Neukölln ist ein Bezirk auf Speed, und das eigentlich schon immer: Durch Zuwanderung jeglicher Art, zuletzt insbesondere in Nord-Neukölln, hat sich die Zusammensetzung der Bevölkerung immer wieder stark verändert – maximale Heterogenität. Die gerne wiederholte Fremdzuschreibung: Hier tobt der Mob. Rassismus, Antisemitismus, Deutschenfeindlichkeit – wo so viele unterschiedliche Menschen zusammenleben, da kracht es (man erinnere sich nur an die No-Go-Area für Juden). Dr. Albrecht Lüter und Aline-Sophie Hirseland von Camino, Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich, haben sich diesem Thema in der Bestandsaufnahme „Zusammenleben in Nord-Neukölln“ (PDF) gewidmet.

Neuköllner lieben ihren Bezirk

Die beiden Wissenschaftler haben im Auftrag des Jugendamts Neukölln ermittelt, ob und inwiefern der Alltag von Diskriminierungserfahrungen geprägt ist. Um dies herauszufinden, haben sie 311 Anwohner befragt und acht Interviews mit sogenannten Experten geführt. Dabei hat die Wissenschaftler vor allem ein Ergebnis besonders überrascht: 80 Prozent der Befragten gaben an, dass sie gerne in Neukölln leben. Und 90 Prozent stimmten folgender Aussage zu: „Die Vielfalt der Kulturen und Lebensstile empfinde ich als Bereicherung“. Ist Mulitkulti doch nicht gescheitert?

Diese Frage beantwortet die Bestandsaufnahme nicht – dies war aber auch nicht ihr Ziel. Stattdessen zeigen die Ergebnisse, wenn auch nur ausschnitthaft, welche Bevölkerungsgruppen besonders mit Diskriminierungen konfrontiert sind. Generell fühlen sich rund ein Viertel der Befragten diskriminiert – das bedeutet zwar auch, dass sich dreiviertel nicht diskriminiert fühlen, andere Gruppen aber dafür mehrheitlich betroffen sind. 48 Prozent der befragten muslimischen Frauen sind von Diskriminierungen im Alltag betroffen, vor allem, wenn diese Kopftuch tragen.

Behörden und Restdeutschland: nachsitzen!

Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse werben Dr. Albrecht Lüter und Aline-Sophie Hirseland dafür, die Einwanderungsgeschichte von Neukölln, und die dadurch entstandenene kulturellen Praktiken, als „Erfahrungsschatz ganz eigener Art“ zu verstehen. „In Neukölln hat sich ein Lernprozess vollzogen, der auch für Deutschland als Einwanderungsgesellschaft insgesamt spannend ist“, erklären der Politikwissenschaftler und Soziologe und die Politik- und Islamwissenschaftlerin.

In diesem Zusammenhang ist eine weitere Aussage der Befragten besonders interessant: 40 Prozent der Befragten geben an, dass sie Ungleichbehandlungen in Behörden oder Institutionen mindestens einmal mitbekommen haben, auch wenn sie dabei nicht selbst betroffen waren. Hier besteht also Nachholungsbedarf und man erinnert sich schnell an die Kopftuchdebatte um Betul Ulusoy. Dr. Albrecht Lüter und Aline-Sophie Hirseland stellen hierzu aber klar: „Auch wenn der Handlungsbedarf insbesondere im Blick auf die Muslima also deutlich ist, würde man die Befragungsergebnisse jedoch überinterpretieren, wenn man daraus Handlungsanweisungen für den Umgang mit Betul Ulusoy ableiten wollen würde.“

Kopftuchdebatte noch nicht zu Ende

Der zuständiger Stadtrat für Jugend und Gesundheit hat indes bei einer Pressekonferenz wie folgt auf die Ergebnisse reagiert: „Das Kopftuch ist bei Mädchen und Frauen der Hauptgrund von der subjektiv wahrgenommen Diskriminierung. Hier wird besonders deutlich, dass das Kopftuch als religiöse Aussage und auch als fremdartig wahrgenommen wird, das polarisiert. Für mich ist das eine deutliche Aussage, kein Kopftuch in öffentlichen Ämtern, wie z.B. bei den Lehrern, zuzulassen“, so Falko Liecke. In Anbetracht der Tatsache, dass die Bestandsaufnahme vom Jugendamt Neukölln beauftragt wurde, um Diskriminierungserfahrungen der Bevölkerung zu ermitteln, und dagegen vorzugehen im Sinne der Betroffenen, ist die Aussage von Falko Liecke äußerst verwunderlich.

Auch wenn die Bestandsaufnahme nicht repräsentativ ist, können und sollten die Ergebnisse Anlass zu Veränderungen im Bezirk geben. Denn die Aussage der Bewohner, dass sie die kulturelle Vielfalt ihres Wohnortes schätzen, sich einige Gruppen in größerem Maße aber trotzdem diskriminiert fühlen, stehen konträr zueinander. Diskussionsbedarf gibt es für „Fokus Neukölln“ also genug.

Lebst du gerne in Neukölln? Hast du auch Erfahrungen mit Diskriminierungen im Alltag auf der Straße oder mit Behörden machen müssen? Erzähl uns davon, hinterlasse einen Kommentar oder schreib uns eine E-Mail an info@neukoellner.net.

Dr. Albrecht Lüter und Aline-Sophie Hirseland stellen ihre Bestandsaufnahme „Zusammenleben in Neukölln“ am 2. November 2015, ab 19-21 Uhr in der Villa Neukölln (Hermannstrasse 233, 12049 Berlin) bei „Fokus Neukölln – Bürger. Forschung. Dialog“ (Event bei Facebook) vor. Eintritt frei – neukoellner.net ist Medienpartner

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