Dystopie unter der Kuppel

Foto: Cara WucholdWie reagiert eine gewählte Regierung aufs Volk, wenn sie die Demokratie gefährdet sieht? Mit dieser Frage beschäftigt sich der portugiesische Autor José Saramago in seinem 2006 erschienen Werk „Die Stadt der Sehenden“. Der Heimathafen und dessen Regisseurin Nicole Oder haben das Stück nun in besonderer Weise als Hörspiel inszeniert.

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Donnerstag, 11. Februar 2016

Bei Kommunalwahlen in einer ungenannten westlichen Demokratie geben 83 Prozent der Wähler einen unbeschrifteten Stimmzettel ab. Die Regierung sieht darin einen Angriff auf die Demokratie, verhängt den Ausnahmezustand, weil sie die nationale Sicherheit gefährdet sieht – und macht sich auf die Suche nach einer subvervisen Gruppe, die sie für den Wahlausgang verantwortlich sieht. Die Grundrechte werden außer Kraft gesetzt, Versammlungen von mehr als drei Personen verboten, und in den Ausfallstraßen fahren Panzer auf.

Was ist der Wert der einzelnen Stimme?

Dieses Szenario beschrieb der portugiesische Schriftsteller José Saramago in seinem 2006 veröffentlichten Werk „Die Stadt der Sehenden“. Der Heimathafen hat Saramagos Roman nun als literarische Grundlage für ein gleichnamiges Hörspiel genutzt. „Am Anfang hat mich die Frage nach der Demokratie interssiert, was ist der Wert der einzelnen Stimme“, so Nicole Oder, verantwortlich für Text und Regie, doch die Attentate in Paris hätten ihren Zugang noch einmal verändert. „Auf einmal haben wir für die Szenarien, die da geschildert werden, also das Attentat am Hauptbahnhof, der Ausnahmezustand in der Stadt, auf einmal eine Blaupause in Europa.“

Foto: Cara Wuchold

Regisseurin Nicole Oder (Foto: Cara Wuchold)

Die Kanzlerin und „Mutter der Nation“, der Innenminister, der Verteidigunsminister, die Kulturministerin – ein enger Politikerzirkel versucht die Kontrolle nach der Wahl zurückzugewinnen. Setzt Lügendetektoren ein, um den Bürgern auf die Schliche zu kommen, die Weiß gewählt haben. Schmiedet Pläne für den Machterhalt. Nur die Kulturministerin pocht auf die Bürgerrechte: „Ich darf den Ministerrat daran erinnern, dass die Bürgerinnen und Bürger, die beschlossen haben Weiß zu wählen, nichts anderes taten, als ein Recht in Anspruch zu nehmen, das das Gesetz ihnen ausdrücklich einräumt.“

Reichstag als Audiobühne

Die Regierung stiftet Unruhe im Verlauf der Ereignisse – und wie, um immer drastischere Konsequenzen zu ziehen. Und die Bürger? Bleiben stumm? „Ich hatte am Anfang das Volk noch drin im Stück und habe es dann ganz rausgenommen, weil ich interessant fand, dass es einfach ruhig bleibt“, erklärt Nicole Oder. „Denn diese Hysterie ist ja auch problematisch im Moment – und so abgekoppelt von dem realen Geschehen.“ Die einzige, die durchdreht, ist hier die Politik.

Wie schnell sich demokratische Mechanismen aushebeln lassen. Welche Werte auf dem Spiel stehen, wenn das System zu wackeln beginnt. Das sind Fragen, die das Hörspiel „Die Stadt der Sehenden“ auf eindrückliche Weise stellt. Und dass der Heimathafen das Reichstagsgebäude als Bühne für den Audiorundgang ausgesucht hat, in unmittelbarer Nähe also zum Parlament, das beruhigt nicht etwa, sondern erhöht den Grad der Nachdenklichkeit. „Wir dachten uns, wir stellen einfach die Dystopie der Demokratie unter die Kuppel“, sagt Nicole Oder lapidar.

Auszug aus dem Hörstück „Die Stadt der Sehenden“:

Ausschnitt „Stadt der Sehenden“ vom Heimathafen Neukölln by neukoellner.net on hearthis.at

Den Download des Audiorundgangs in Verbindung mit einem Besuch der Reichstagskuppel findet ihr hier. Dauer ca. 1 Stunde, Download-Kosten: 5 Euro. Nächste Termine im Reichstag: Mo., 15.02.2016, 9:00 Uhr und Mo., 29.02.2016, 18 Uhr.

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