Kathedrale der Elektrizität

Kein Schloss, keine Kirche – ein Umspannwerk. In der Richardstraße vegetierte diese Perle der Industriearchitektur viele Jahre vor sich hin. Und hat nun neue Gäste gefunden.

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Donnerstag, 18. Juli 2013

Fotos: Hiroyuki Koshikawa

Das alte Umspannwerk in der Richardstraße sorgt für Aufsehen. Die filigrane Backsteingeometrie der Fassade mit den silbrig schimmernden Fensterlinien zieht den Blick in den Himmel. Wie ein gotisches Schloß steht es in der schmalen Straße, wie eine alte Kirche oder ein Geisterhaus. Sonst ist von außen nicht viel zu sehen. Nur der Briefschlitz in der Eisentür erlaubt einen Blick in die Tordurchfahrt.
Umspannwerke sind nicht gerade Prestigeprojekte für ambitionierte Architekten. Aber Hans Heinrich Müller war in den 20er Jahren der Herr der Berliner Umspannwerke. Angestellt bei der Bauabteilung der Bewag baute er als Chefarchitekt etwa 40 dieser immer etwas avantgardistischen Elektrizitätsverteilungsstationen an den Rändern von Groß-Berlin.

Das Umspannwerk in der Richardstraße, das 1928 fertiggestellt wurde, ist eines davon. Andere stehen am Ufer des Kanals (Umspannwerk Kreuzberg) oder – wesentlich pompöser – in Prenzlauer Berg (Abspannwerk Humboldt). Strom wurde dort ab- und umgespannt, damit „das Blut der Großstadt“ – so heißt es etwas pathetisch im Neuköllner Anzeiger von 1950 – aus den Elektrizitätswerken außerhalb der Stadt zu den einzelnen Glühbirnen fließen konnte. Von 30 Kilovolt (kV) musste der Drehstrom entweder auf haushaltstaugliche 6 kV abgespannt oder zu Großverbrauchern wie Industrie und Stadtverkehr umgespannt werden. Der Berliner Fabrikant Emil Rathenau hatte das elektrische Licht von der ersten Elektrizitätsausstellung 1881 in Paris nach Berlin gebracht. Schon ein Jahr später wurde am Potsdamer Platz und in der Leipziger Straße die erste dauerhafte Straßenbeleuchtung in Betrieb genommen. Der 1920 gegründete Ballungsraum Groß-Berlin, mit dem auch Neukölln ins Stadtgebiet integriert wurde, brauchte viel Strom für die etwa vier Millionen Menschen, die hier lebten, sowie für Beleuchtung und Verkehr. Seit 1896 fuhr man in Berlin nicht mehr mit der Straßenbahn, sondern mit der „Elektrischen“.

„Wenn wir mal im Lotto gewinnen…“

Sakrale Innenräume, Foto: Hiroyuki Koshikawa

Werfen wir einen Blick in das alte Umspannwerk. Saskia öffnet uns die gelbe, quietschende Fabriktür. Sie leitet und kuratiert zusammen mit Bonaventure Soh Bejeng Ndikung das Kunstprojekt Savvy Contemporary, das hier seine neuen Ausstellungsräume eröffnen wird. Seit einem Monat mieten sie die erste Etage und den Keller. Hier soll Raum für Performance Art, Ausstellungen und Konzerte entstehen. Viel Staub liegt noch über der morbiden Pracht des Industriebaus.

Mit dem Umspannwerk als Ausstellungsort hätten sie schon länger geliebäugelt, erzählt Saskia. Früher sind sie oft hier vorbeigelaufen und haben gescherzt: „Wenn wir mal im Lotto gewinnen…“. Gewonnen haben sie dann einen Preis, den der Berliner Senat zur Förderung von Kunstorten ausgeschrieben hatte. Jetzt sind sie hier.

Ihren Strom konnten die Leute hier wie frische Milch direkt vor Ort bezahlen

Viele Jahre stand das Umspannwerk leer, Foto: Hiroyuki Koshikawa

Hans Heinrich Müller kam aus Steglitz, wo er von 1909 bis 1921 als Gemeindebaumeister tätig war, nach Neukölln. Bis 1924 ist er hier als Baurat tätig ohne selbst viel zu bauen. Danach engagiert ihn die Bewag für die architektonische Reorganisation ihres Stromverteilungsnetzes. Aus seinen Umspannwerken macht Müller kleine Schlösser, in denen er die nordische Backsteintradition in expressionistische Formen übersetzt. Die Dome in Lübeck, Wismar oder Stralsund gehören zu Müllers traditionellen Vorbildern. Von dieser monumentalen Grundlage aus, geht Müllers Sehnsucht nach dem Fremden und Besonderen ins Detail. Für die Fassadenabschlüsse, Mauernischen und Bögen lässt er sich von persischer Baukunst inspirieren. Alte Formen geben dem Fortschritt sein Fundament. Als 1926 der Bau in der Richardstraße beginnt, hat er nicht viel Platz zwischen den stuckbeladenen Wohnhäusern der Gründerzeit. Wie ein kompakter Gegenentwurf der Moderne erscheinen daneben die dunkelroten Backsteinrippen.

Damals waren Umspannwerke in vielerlei Hinsicht Schaltzentralen. Die Mitarbeiter wohnten meist nebenan in Werkswohnungen, um mögliche Störungen direkt beheben zu können. Ihren Strom konnten die Leute hier wie frische Milch direkt vor Ort bezahlen. Wie in einem Kloster versammelte Müller deshalb die unterschiedlichen Funktionen rund um seine „Kathedralen der Elektrizität“. Es sind ernste und erhabene Gebäude, heilige Hallen, wie gemacht für den Geist des spannungsgeladenen technischen Fortschritts. In der Richardstraße sieht alles etwas bescheidener aus, aber dafür steht mit stiller Märchenhaftigkeit im Hinterhof ein rundes Türmchen, in dem eine Wendeltreppe hinauf in die verschiedenen Etagen führt.

Die Innenräume des Umspannwerks wirken sakral. Von beiden Seiten fällt das Licht durch die schmalen Fensterrippen in die ehemalige Schalthalle, die durch rostzerfressene Stahlträger gehalten wird. In den früheren Aufenthaltsräumen für die Werksarbeiter hängen noch die Waschbecken an der blaßgrünen Wand.

Über viele Jahre stand das Umspannwerk leer. Bis zur Eröffnung im August gibt es für Savvy Contemporary noch viel zu tun. Aber eigentlich müsste man Hans Heinrich Müllers Backsteinschönheit nur noch ein wenig abstauben und dort ausstellen.

Foto: Hiroyuki Koshikawa