Die Brasilianer Caique Tizzi und Pedro Jardim gründeten mit drei weiteren Freunden 2011 das Agora Collective und bezogen das fünfgeschossige Fabrikgebäude im Mittelweg 50 nahe dem U-Bahnhof Leinestraße. Außen eine pittoreske Fassade aus gelbem Ziegelstein, von Efeu umrankt an den Seiten, Innen großzügige, lichtdurchflutete Räume – schnell zog es Digital Bohemians, Künstler und sonstige Kreative aus aller Welt hierher. Das Agora Collective beherbergte einen Co-Working Space, Ateliers, ein Café samt gemütlichen Garten. Alles gründete auf Interdisziplinarität und Gemeinschaft.
„Wir erschufen hier einen Ort als Prototyp einer idealen Gemeinschaft, wo wir Vorstellungen von einem guten Leben teilen konnten. Architektonisch spiegelte die Aufteilung des Hauses die vier Grundsätze eines solchen Lebens wieder: Essen, Arbeiten, Lernen, Kunst“, erzählt Caique Tizzi. Rund um diese Aspekte entstanden Projekte und Programme, die sich mit der Frage, was heutzutage wichtig ist und was die Herausforderungen sind, mit der Dynamik der Gegenwart beschäftigten. Agora, das bedeutet auch „Jetzt“ auf Portugiesisch.
Jetzt stellen sich diese Fragen für Caique Tizzi in Bezug auf Agora Collective selbst. Denn seit diesem Jahr ist das charmante Haus im Mittelweg passé. Agora ist auf das neue Kulturgelände rund um die alte Kindl Brauerei in der Rollbergstraße 26 umgezogen. Der Vermieter vom Mittelweg zog die Miete um 92 Prozent an und der Versuch, das Gebäude mithilfe von Krediten zu erwerben, scheiterte, da das Haus im letzten Moment an einen anderen Interessenten verkaufte wurde.
Das Agora-Team wendete sich an die gemeinnützige Schweizer Edith Maryon Stiftung, welche das Gelände der Kindl Brauerei erworben hatte mit dem Ziel, es vor Spekulanten zu retten und zu einem innerstädtischen Kultur- und Wohnort zu gestalten. Den Schweizern gefiel das Konzept von Agora und zusammen entwickelten sie die Idee, künstlerische und nachhaltige Praxis miteinander zu verbinden. So wurde das neue Gebäude zunächst mit den Leuten vom CRCLR Lab bezogen, die Ideen für einen Wirtschaftskreislauf entwickeln, in dem alle Ressourcen so genutzt und wiederverwertet werden, dass kein Abfall entsteht. Mittlerweile gehen beide jedoch auf Grund von unterschiedlichen Vorstellungen getrennte Wege. Im unterirdischen Teil des Gebäudes, im weitläufigen Lagerkeller, hat sich Agora angesiedelt.
Neue Räumlichkeiten, neue Herausforderungen
„Mir ist immer klarer geworden, dass es die physischen Qualitäten des Raums sind, die bestimmen, was in ihm passiert und wie man ihn zu behandeln hat“, sagt Caique. Die großen, durch schmale Oberfenster beleuchteten Räume mit ihren teilweise noch kahlen Betonwänden eigneten sich hervorragend als Ateliers und Tanzsäle. Co-Working und Café wie im Mittelweg, das sei hier nicht mehr möglich. „Die Energie ist eine andere und das muss man fühlen und darauf reagieren“, so Caique weiter. Für ihn sei das kein Grund zur Trauer, denn er plante die Stätte sowieso mehr auf künstlerische Produktion auszurichten. Tanz und performative Praktiken sollen intensiviert werden, wofür ein 180 Quadratmeter großer Raum als Tanzsaal hergerichtet wird. Selbst der alles miteinanderverbindende, breite und über Hundert Meter lange Flur wird demnächst bespielt: als Galerie.
Noch ist hier und da etwas zu tun. Die kühlen Lagerräume werden nach und nach von den hier arbeitenden Künstlern eingenommen. Eine Besonderheit ist die Keramikwerkstatt. Die Leiterin des „Ceramic Kingdom“, Madeline Stillwell, hat ihren Hintergrund sowohl in der Keramik als auch in der Performancekunst. Im Agora kann sie beides verbinden. „Ich habe mich hier niedergelassen wegen der Gemeinschaft, der Lage und dem Potenzial für kollaboratives Arbeiten mit den anderen Künstlern“; so Stillwell. In der Werkstatt sei jeder willkommen an einem Kurs teilzunehmen oder selbständig zu arbeiten. Auch wird im neuen Agora nicht ganz auf einen Tresen verzichtet, auch wenn hier keine Kaffeespezialitäten mehr rübergereicht werden, sondern Drinks bei Veranstaltungen wie der wöchentlichen Babes Bar am Mittwochabend.
Keine Zeit für Nostalgie
Der Auszug aus dem charmanten Backsteingebäude, war eine körperliche und emotionale Anstrengung. Doch Caique hat keine Zeit für Nostalgie. Er überlegt, wie er jetzt mit dem Potenzial dieses neuen Ortes umgeht und wie sich die bisherigen Konzepte darauf übertragen lassen. Dabei möchte er die erarbeiteten Ressourcen nutzen ohne jedoch vom Mittelweg einfach alles zu übertragen.
Zugleich stellt er ein neues Leitungsteam zusammen, denn die meisten seiner Mitstreiter sind wie er mitten in ihren Dreißigern, haben sich entweder der Familienplanung oder neuen, finanziell ergiebigeren Projekten gewidmet. Neben den Schweizern finanziert sich Agora durch das Creative Europe Programe CAPP (Collaborative Arts Partnership Programme), Zuschüsse anderer europäischer Institutionen sowie durch die Vermietung der Räumlichkeiten. Dass manche nach mehr Sicherheit streben, ist für Caique verständlich. Er selbst hat noch genug Energie, um Agora weiterzubetreiben und freut sich auf den Neuanfang. Ab 2015 wurde die Renovierung der neuen Räumlichkeiten durch die Verbindung von Profis mit zahlreichen Freiwilligen und kulturellen Veranstaltungen als ein kollektiver Performanceakt gestaltet. „Die Idee, eine Gemeinschaft zu schaffen, neue Möglichkeiten des Zusammenlebens auszuloten – alles ist da, es muss nur in neue Form gebracht werden“, sagt Caique.
Die Entdeckung der Nachbarschaft
Die Architektur des alten und neuen Ortes ist durchaus bezeichnend für den Agora-Spirit. So wie der hübsche Solitär im Mittelweg Abstand zu den anderen Gebäuden hielt, so blieb auch das vornehmlich internationale Netzwerk und Publikum aus Künstlern und Kreativen eher unter sich. Der neue Standort, finanziert durch eine gemeinnützige Stiftung und eingebettet in das Kindl-Gesamtkonzept, ist nun Teil eines sozialen Gefüges. Für Caique ist es nach all den Jahren auch ein persönliches Bedürfnis, der Stadt, die ihm die Möglichkeiten für die Verwirklichung seiner bisherigen Ideen gab, etwas zurückzugeben.
Das bedeutet für ihn, mit Berlin in Beziehung zu treten. „Ich denke es ist wichtig, dass wir Agora in der Stadt verwurzeln, es stärker in das deutsche System einbinden. Wir wollen mehr mit der Nachbarschaft verbunden sein, mehr mit dem, was Neukölln ist.“ Geplant sind Englischunterricht für Flüchtlingskinder, Tanzkurse sowohl für Profis als auch Anfänger oder Zeichenkurse, auch in Zusammenarbeit mit Initiativen aus der Nachbarschaft.
Agora in der Agora
In Zukunft möchte Caique das Agora Collective von einem vielfältigen Kuratorenteam leiten lassen, das es zu einer interessanten und wichtigen Stätte künstlerischen Wirkens macht. Dabei soll jeder Raum von einem eigenen Kollektiv betrieben werden, indem es autonom Projekte entwickelt und zugleich in Dialog mit den anderen tritt. „Ich sehe Agora als etablierten Treffpunkt – einen Knotenpunkt in der Stadt Berlin. Ein Ort, dessen Gerüst von einigen definiert ist, der aber von vielen gestaltet wird“, so seine Vision.
So scheint es, dass Agora Collective in der Rollbergstraße genau am richtigen Ort gelandet ist. Mitten auf dem Kindl Geländes als zentralem Kultur- und Wohnort an dem Menschen sich begegnen – einer neuen Agora Neuköllns –, wo die Fragen „Was sind hier die aktuellen Gegebenheiten?“ und „ Was tun wir jetzt?“ verhandelt werden sollen.
Wer die Arbeiten des Agora Collective live erleben möchte, dem sei am 14. Oktober die Ausstellung Corridors ans Herz gelegt. Beginn ist um 18 Uhr, Am Sudhaus 2, Untergeschoss.