Eine junge Frau steht vor dem Ludwig, der queeren Neuköllner Kiez-Kneipe. Sie trägt ein mit blauen Pailletten besetztes Hütchen und sieht damit aus wie eine Flugbegleiterin ganz ihrem Nachnamen „Airlines“ entsprechend. Dazu ein figurbetontes Kleid, eine Felljacke über den Schulter und Highheels mit denen sie die meisten anderen Frauen überragt. Sie verteilt nervös Küsschen links und rechts an ein paar eintreffende Gäste, schließlich ist das heute ihre eigene Show. Doch als sie in der Bar auf der Bühne steht, tanzt sie, singt Playback, macht Witze auf Englisch, als wäre sie genau für das geboren worden. Sie lacht mit ihrem rotbemalten Mund, blinzelt mit ihren langen Wimpern und streicht immer wieder mit einer langsamen Handbewegung die blonden Locken ihrer Perücke nach hinten.
Shakespeare benutzte die Regieanweisung „Dressed as a Girl“, kurz Drag, um zu kennzeichnen, dass ein Mann in Frauenkleidern und viel zu überschminkt die Julia spielen sollte. Daraus entwickelte sich eine Kunstform. Kristelle zählt sich selbst zu den transformistas – den sich Wandelnden-, die aus Südamerika inspiriert sind. Es geht um die Illusion einer Frau und darum eine Kunstfigur zu schaffen, die eine Frau ist, die aber nichts mit dem täglichen Leben zu tun hat. So ist Kristelle die Frau, die ab und an Kristians Körper übernimmt.
Eine Karrikatur einer Frau?
In weißem Hemd und kurzer Hose schlendert er ein paar Tage vor seinem Auftritt über den Türkischen Markt am Maybachufer. Der etwas gemütliche Gang, die gleiche Haltung des Kopfes, der Blick aus tiefblauen Augen erinnern sofort an Kristelle. Kristian ist kleiner ohne High-Heels. Er hat blonde Löckchen und trägt eine runde Brille auf seiner geschwungenen Nase. Schon ist er beim ersten Stoffstand. Pailletten, was sonst. „Er zeigt mir immer Fotos von seinen Kleidern“, sagt die Marktfrau, „ich finde gut, was er macht.“ Im Fummel kommt Kristian aber nie auf den Markt. Den trägt er nur zu politischen Anlässen oder wenn er bezahlt wird.
In der U8, auf dem Weg zu ihm nach Hause, plaudert er über die weibliche Biologie, über seine Beziehung mit einem vier Jahre älteren Mann und über seine Liste mit Schönheitsoperationen, die er vollziehen würde. Er hat ein ausgiebiges Lachen. Genauso lacht auch Kristelle. Er erzählt von Frauen, die es als zutiefst antifeministisch oder frauenfeindlich ansehen, dass er sich als Mann das Privileg herausnehme, eine Frau darzustellen und dann auch noch eine Karikatur einer Frau zu sein. Er kann es nachvollziehen, er weiß nicht, wie es ist eine Frau zu sein und hat auch gar nicht den Anspruch. Darum gehe es nicht.
Das erste Mal im Fummel
In seiner Wohnung stapeln sich Schminkutensilien. Kleider hängen von der Decke. Perücken auf Styroporköpfen stehen aufgereiht auf Regalbrettern. Er setzt Teewasser auf und schneidet Wassermelone in Stücke. Dann dreht er sich eine Zigarette und raucht. Selbst ganz ohne Mascara hat Kristian erstaunlich lange Wimpern. An der Küchenwand hängen Schwarz-Weiß-Fotografien. Seine Eltern gemischt mit Fotos, die er bei einer Hausauflösung fand. Er hat schon in allen möglichen Ländern gelebt. Eine Bekannte meint, er spräche neun Sprachen, ein Kollege tippt auf zwölf. Auf Englisch fühlt er sich am Wohlsten.
Das erste Mal im Fummel war vor drei Jahren. Er habe mal Ferien von sich selbst gebraucht oder wollte vielleicht auch einfach nur umsonst ins SchwuZ, Berlins queerem Club, reinkommen, wo Personen im Fummel freien Eintritt haben. Er trug ein billiges, schwarzes Kleid, seine Unterwäsche und Arme waren sichtbar, dazu eine Dolly Parton Perücke. Eigentlich drei, weil er in Paris gelernt hatte, eine Travestiekünstlerin trage nicht nur eine, drei Perücken seien das Minimum. Er hatte an dem Abend seine ganze Fantasie ausgelebt und fand es schön. War es nicht, stellt er fest, wenn er heute Fotos anschaut. Im SchwuZ war damals Miss-Siegessäule-Wahl. Kaey, eine der großen Nummern in Berlin, habe sich umgedreht und ihn gefragt, wieso er nicht mitmache. „Heute ist mein erstes Mal.“, habe Kristian erwidert. Kaey sei sturzbetrunken gewesen und meinte dann zu ihm: „Mach weiter, du bist gut.“
Ein Körper aus Schaumstoff-Pads
Von da an begann Kristian zu experimentieren. Ein erstes Shooting. Aufträge. Eine eigene Show. Aus einem Hobby wurde ein Beruf und Kaey schließlich seine Mentorin und Transenmutti. „Und jetzt sitze ich hier umgeben von Nähmaschinen und Perücken.“ Lachend blickt er sich in seinem Zimmer um. Seine Outfits näht der Mode-Student selbst. Dank Kristelle ist er sein eigenes Model und versteht den weiblichen Körper ganz anders. „Ich weiß halt, was eine Endkonsumentin am Ende braucht, weil sie nicht groß und schlank ist, sondern, wie ich mit dem ganzen Padding, rund und eher kleingebaut ist.“
Kristian erschafft Kristelles Körper mit Schaumstoff-Pads, die er sich proportional zu seinen breiten Schultern zurechtgeschnitten hat und die seine Hüfte und seinen Po verstärken sollen. Seinen Bauch schnürt er mit einem Korsett ab, seine Genitalien sind weggeklebt. Er trägt fast zehn Kilo Brüste, die durch zwei BHs getragen werden müssen, weil sie sonst seine Schultern einschneiden. Dazu mindestens sieben Strumpfhosen und mehrere Paar Mogelwäschen, damit sich Schaumstoffhüfte und -hintern schön an seinen Körper anschmiegen. Er hält sich die selbstgebastelten Pads an. Aufs Klo gehen ist da nicht, also auch kein Trinken. „Ich habe auch immer so eine schöne Schicht an kaltem Schweiß über meinem ganzen Körper, was auch so den unverwechselbaren Geruch einer Transe ausmacht, diese Mischung aus Silikonbrüsten, die mit Schweiß reagieren.“ Travestie tut weh und Kristian setzt viel daran gut auszusehen, weil er anders nicht gerne aus dem Haus geht. Er sei wohl eitel.
Travestie als Rüstung
„Für mich ist es tatsächlich eine Kunstfigur, die ich erschaffen habe und die mir die Möglichkeit gibt zu sagen, was ich zu sagen habe, die mir die Möglichkeit gibt für andere Leute, die übergewichtig sind, zu zeigen, dass du schön sein kann, auch weil du fett bist.“ Sie ist seine Rüstung. Kristians Unsicherheiten sind da, aber sie werden überspielt, indem er als Kristelle einfach verdammt gut aussehe. Irgendwie macht er es auch für die Frauen. Überweiblichkeit als Karikatur des Frauenbildes des Patriachats. Für die Frauen, mit denen er aufgewachsen ist und die sich in regelmäßigen Abständen operieren lassen und in viel zu enge Kleider zwängen. Wenn eine Frau das täglich durchstehen kann, könne er das als Mann auch, um sie zu feiern. Und ein bisschen für die queere Community und Geld und weil es süchtig macht.
Kristians Mutter kommt irgendwo aus Südamerika. Dort werden Transmenschen von Banden auf der Straße regelrecht hingerichtet. Und auch in Berlin wurde Kristian als Kristelle oft genug angegriffen, mehrmals auf den Boden geschmissen und musste zum Arzt, weil Leute dachten, sie müssten ihre Homophobie oder ihre Ängste an ihr auslassen. Kristian akzeptiert die Opferrolle nicht. Wenn ihn jemand angreift, wehrt er sich. Notwehr sei schließlich immer noch vom Gesetz geschützt. Dennoch wünscht man das seinem Kind nicht. Seine Mutter mag die Idee der Travestie deshalb nicht so wirklich. Zum Rest der Familie habe er wenig Kontakt. Nur mit seinem Bruder wohnt er sogar zusammen. Der fände es lustig und sei manchmal genervt, wenn Kristian reinlaufe und frage „und wie sehe ich aus?“. Er brumme dann meistens nur „gut“ oder „du hast da einen komischen Schatten“.
Am Abend von Kristelles Auftritt im Ludwig sitzt ihre selbstgewählte Transenfamilie im Publikum. Kaey, die Mutter, johlt und feuert ihren Schützling an. Und Kristelles Schwestern neiden, wie es auch echte Schwestern tun würden: „Also wir machen das nicht so extrem wie Kristelle. Wir würden nie mehr als eine Strumpfhose tragen.“