Tauschrausch in Rixdorf

Zeit ist Geld. Die Weisheit ist bekannt. Was allerdings ist gemeint mit “Lebenszeit gleich Lebenszeit“? Viele Tauschkreise in Deutschland machen es vor, und funktionieren über ein alternatives Zahlsystem. Ihre Mitglieder zahlen, statt wie üblich mit Münzen und Scheinen, mit jener Zeit, die sie für eine Tätigkeit aufwenden. Vier Stunden Katzensitting gegen zwei Stunden Keller entrümpeln, Hochbett bauen oder Schlüssel vergolden — den Gesuchen und Geboten sind keine Grenzen gesetzt. (mehr …)

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Montag, 20. Februar 2012

Text: Sarah Lehnert

Mehr als 30 Tauschringe gibt es mittlerweile in Berlin. Unter ihnen ist auch der „Neuköllner Nachbarn“, der, ebenso wie die anderen, an das Portal der kostenlosen Internettauschbörse “Tauschen ohne Geld“ angeschlossen ist. „Neuköllner Nachbarn“-Initiator und Besitzer des Café “Dritter Raum“, Rolf Sindermann, hatte bereits vor der Gründung des Neuköllner Tauschkreises Übung im Tauschen.

neukoellner.net: Wie kamst du dazu, einen eigenen Tauschring zu eröffnen?
Rolf Sindermann: Bevor ich die Idee zu einem eigenen Tauschring hatte, war ich Mitglied beim „Kreuzberger Tauschring“ in der Urbanstraße. Dieser ist mit seinen 15 Jahren einer der ältesten und zugleich größten in Deutschland. Der Grund, einen Tauschring zu gründen, war eher räumlicher Natur: Der Kreuzberger Tauschring war mehr als 3 km, und ein Großteil seiner Mitglieder weit mehr als 6 km von meiner Wohnung entfernt. Da die Stärke eines Tauschringes allerdings darin besteht, die kurzen Wege der Nachbarschaft zu nutzen und die Bekanntschaften im Kiez zu stärken, lag es nahe, einen Tauschgemeinschaft im Richardkiez aufzubauen.

Was unterscheidet den Kreuzberger vom Neuköllner Tauschring?
In Kreuzberg wird mit dem Kreuzer, in Neukölln mit dem Rix gerechnet. Das macht Sinn. Die Geburtsstätte des „Neuköllner Nachbarn“ liegt im „Café Dritter Raum“, in der Hertzbergstraße14, und damit nur wenige Meter von Rixdorf entfernt.

Welcher Gedanke steht hinter dem “Neuköllner Nachbarn“?
Die Idee dahinter ist die Förderung des In-Kontakt-Tretens der Kiez-Bewohner untereinander und damit ein Anstoß zu einer funktionierenden Nachbarschaftshilfe. Die Mitglieder des „Neuköllner Nachbarn“ sind schließlich nicht nur potentielle Tauschpartner, sondern vor allem Nachbarn, die über den Tauschring voneinander erfahren und bestenfalls voneinander profitieren können. Deshalb ist der Tauschring auch kiezgebunden.

Welchen Mehrwert haben Tauschkreise?
Tauschkreise machen es mit dem Einsatz von Zeit als Währung möglich, finanzielle und damit oftmals einhergehende soziale Ungleichgewichte in der Gesellschaft zu mindern. Der Tauschring ist ein System, welches als Ergänzung zu unserer Eurowelt dient. Die Frage ist: Was kann jeder einzelne? Was kann er anbieten? Die Tauschringmitglieder kennen kein „Mich braucht niemand“, „Ich kann doch nichts“. Das ist ein Gefühl, das vielen Arbeitslosen vermittelt wird. In der normalen “Euro-Welt“ verdienen sie mit dem, was sie leisten können, kein Geld. Im Tauschring dagegen ist jede Leistung gleichwertig und vor allem wichtig. Wir sollten bloß die Straße hinunter schauen: An jeder Ecke, hinter jeder Tür liegt Arbeit, die gemacht werden kann.

Wie funktioniert der „Neuköllner Nachbarn“-Tauschkreis praktisch?
Jedes registrierte Mitglied erhält sein eigenes Tausch-Konto. Getauscht wird mit der unmittelbar aufgewendeten Zeit, also der Lebenszeit, die jeder für eine Tätigkeit benötigt. Diese Lebenszeit wird in Zeiteinheiten abgerechnet. Für eine Stunde werden dem Leistungsbringer 12 Rix gutgeschrieben. Hat ein Mitglied eine Leistung in Anspruch genommen, kann es die Gegenleistung auch an einem anderen Tauschring-Mitglied erbringen und enthält die entsprechende Lebenszeit dafür.

Was ermöglicht der Tausch von Lebenszeit?
Alles auf der Welt hat seinen Preis, einen Geldwert, der ohne unser persönliches Dazutun festgelegt wurde. Wir gehen in einen Laden, kaufen etwas und hinterfragen nicht den eigentlichen Wert eines Produktes oder einer Dienstleitung. Durch das Aushandeln von Arbeitsstunden im Tauschprozess machen sich die Mitglieder dagegen den Wert der jeweiligen Sache bewusst. Sie überlegen, wie viele Stunden von der eigenen Lebenszeit sie zu opfern bereit sind. Das Verhandeln führt automatisch zu einer Inwertsetzung von alltäglichen Gebrauchsgegenständen, von Tätigkeiten und Kompetenzen. Wir erhalten einen anderen Blick auf  das, für das wir im Alltag ohne viel Widerspruch kaufen und bezahlen.

Was bringt dem Neuköllner-Tauschring die Zukunft?
Noch bin ich sozusagen Alleinherrscher. Das soll sich jetzt ändern. Es war von Anfang an geplant, den Tauschring von meiner Person zu lösen. Ich möchte die Organisation und die weitere Entwicklung in die Hände der Gemeinschaft geben. Alternative Projekte sollten nie zu sehr an einer Person hängen, sondern aus der Gemeinschaft heraus getragen und weiter entwickelt werden. Bei mittlerweile knapp 100 Mitgliedern ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, dass die Gemeinschaft überlegt: Was ist der Tauschring für uns? Wie möchten wir ihn gestalten? Hier beginnt ein spannender Prozess. Ich bin wirklich neugierig, wohin all die unterschiedlichen Menschen, die bereits an Bord sind, das Boot steuern werden!

Infoabende jeden Mittwoch von 19 bis 20 Uhr im Café Dritter Raum, Hertzbergstr. 14, 12055 Berlin – www.richardkiez.net.