Vom Altern der Bäume in der Stadt

Die Linde Nr. 4 ist der älteste Baum im Schillerkiez. Foto: Anke Hohmeister

Nicht nur Menschen altern, auch Gebäude oder Straßenzüge. Wie aber altern die Bäume in der Stadt? Und wie werden sie gepflegt? Das haben wir zwei Mitarbeiter des Grünflächenamtes Neukölln gefragt.

Text: Magdalena Schrefel

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Mittwoch, 25. April 2018

Als ich ein Kind war, fuhren wir in den Ferien oft zu meinem Onkel, der in einem Straßendorf auf dem Land lebte, an dessen Beginn – nach einem Gasthof und einer mauergroßen Werbung für eine Zeitung – der alte Bauernhof stand, mit einer Scheune, dahinter weiten Wiesen und einem Kompostklo. Jedes Mal, wenn wir bei meinem Onkel waren, wollte mein Vater zu einem bestimmten Baum fahren. Den fotografierte er, damals noch analog. Vier Fotos dieses Baumes – eines aus jeder Jahreszeit – hängen bis heute in der Wohnung meines Vaters. Vor Jahren schon zogen mein Onkel und seine Familie weg, den alten Hof, so meinte eine meiner Cousinen, gebe es nicht mehr. Ob es den Baum noch gibt, weiß niemand. Möglich aber wäre es. Weil Bäume den Menschen weit überleben können. Bei guten Umweltbedingungen zumindest. Wie aber verhält es sich mit den Bäumen in der Stadt? Wie altert der Baumbestand in Berlin?

„Ein schöner Kandidat“ 

Mit weitem Blick über die ganze Stadt, die sich unter einem wolkenlosen Himmel erstreckt, findet das Gespräch mit einem Mitarbeiter des Grünflächenamts Neukölln statt. Guido Fellhölter ist ein besonnener Gesprächspartner. Seine Worte wählt er mit Bedacht, er spricht in mehrgliedrigen Sätzen mit hörbaren Punkten und Kommas und er spricht oft davon, dass ein Sachverhalt unterschiedlichste Gründe habe. Einfache Erklärungen sind seine Sache nicht. Seit 2008 ist er im Grünflächenamt des Bezirks Neukölln für Straßengrün und Straßenbäume verantwortlich. Wenn er von den Bäumen in Neukölln spricht, dann verwendet er Formulierungen wie: „ein besonderer Kollege“ oder „ein schöner Kandidat“. Unter normalen Bedingungen, sagt Fellhölter, wächst ein Baum zwischen 2,8 und 3,2 Zentimeter im Jahr – im Umfang, wohlgemerkt. In die Höhe sei die Schwankung größer. Oft wachsen Bäume in jungen Jahren sehr schnell, fahren dann ihr Wachstum zurück und schrumpfen im Alter sogar.

In dieser Hinsicht sind sie dem Menschen sehr ähnlich. Die Lebenserwartung liegt für einen Straßenbaum in Berlin bei 50 bis 60 Jahren – im Vergleich dazu kann eine Linde unter günstigen Freilandbedingungen schon mal 300 bis 400 Jahre alt werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen in Berlin liegt damit deutlich näher beim Stadtbaum – 83 Jahre wird ein 2016 in Berlin geborenes Mädchen, nur 77 Jahre ein Junge, rein statistisch zumindest. Doch hier wie da findet derzeit ein Generationenwechsel statt – die Berliner Stadtbevölkerung wird durch Zuzug in den letzten Jahren im Schnitt kontinuierlich jünger. Und auch die Bäume werden jünger. Denn jene, die in den Nachkriegsjahren auf Schutt und Trümmern hier gepflanzt wurden, sterben nun langsam ab. Auch im Schillerkiez ist das nicht anders.

Bäume sorgen in der Stadt für bessere Luft. Allerdings setzen ihn Umweltbelastungen wie Abgase oder Hundeurin zu. Foto: Michael Zambrano

Die Bedingungen für Straßenbäume sind in der Stadt denkbar schlecht: Leitungen, die im Boden geführt werden, behindern das Wurzelwachstum, sodass die Bäume keinen festen Halt mehr finden. Auch klimatische Veränderungen und die Umweltbelastung durch Autoabgase führen dazu, dass die Bäume Stress haben. Hundeurin und Streusalz setzen ihnen ebenfalls zu. Das Alter, das ein Baum erreichen kann, hängt also von vielen Faktoren ab; es gebe in Neukölln Bäume, die man aufgrund ihrer Wuchseigenschaften und Vitalität auf über 300 Jahre alt schätze, erzählt Guido Fellhölter. Auch in der Hasenheide seien einige alte Eichen und Buchen zu finden, mit 200 bis 250 Jahren. Der älteste Straßenbaum auf der Schillerpromenade ist dagegen wohl keine 100 Jahre alt. Es ist die Linde mit der Nummer 4 am Herrfurthplatz.

Das Alter eines Baumes in der Straßenbepflanzung lässt sich nur schätzen. Seit den 1980er Jahren wird die Bepflanzung exakt datiert und vermerkt – erst in Karteikarten, dann in Excel-Tabellen und mittlerweile in einer auch öffentlich zugänglichen Datenbank. Vermerkt wird das Pflanzjahr, davor aber steht ein Baum schon sieben bis zehn Jahre in der Baumschule. Von denen gab es früher in jedem Stadtbezirk eine eigene, heute werden die Bäume zugekauft – aus dem Berliner Umland genauso wie aus Osteuropa. Wissen, wie alt ein Baum ist, kann man schlussendlich erst, wenn er gefällt ist. Nur anhand seiner Jahresringe sind exakte Altersbestimmungen möglich.

Das Sprechen der Bäume

Jeder Straßenbaum ist im Baumkataster vermerkt. Der Kataster ist sozusagen das Einwohnermelderegister der Straßenbäume, das genau erkennen lässt, wo welcher Baum steht. Etwa alle neun Monate erhält jeder Baum im Straßenland zwei Besuche von der Baumkontrolle – einmal im belaubten Zustand, einmal im Winter, sozusagen nackt. Die Verwaltungsvorschrift sieht diese Baumkontrollen zum Schutz der Bevölkerung genauso wie von Hab und Gut vor. Die Bäume sprechen mit uns, sagt Herr Fellhölter – nicht umsonst nennt man die einzelne Baumkontrolle auch die Baumansprache. Es brauche viel Praxiserfahrung, um dieses Sprechen des Baumes zu verstehen. Einer, der die Bäume gut versteht, ist Christian Schön. Landschaftsgärtner habe er gelernt, danach habe er über 15 Jahre aktiv oben im Baum gearbeitet, wie er sagt. Und nun eben in der Baumansprache.

Wir fangen an, indem wir uns dem Baum nähern. Es ist ein Ahorn. Die Bäume auf der Straße sind nummeriert. Das Arbeitsgerät: Ein Handheld-Computer. Darauf ruft man den Straßenbaumkataster auf, sieht die bisherigen Befunde und Maßnahmen. Wenn wir auf den Baum zugehen, sagt Christian Schön, gucken wir uns die Krone an. Den Stamm gucken wir erst an, wenn wir beim Baum angekommen sind. Das sei aber genauso wichtig. Am Stamm müsse man auf Schäden achten – zugefügt durch zum Beispiel einen Anfahrschaden oder Hundeurin, der an der Rinde regelrechte Verbrennungen auslöst. Auch Infektionen werden bei der Baumansprache dokumentiert. Nachdem wir alles kontrolliert haben, speichern wir die Beobachtungen im System ab und sprechen den nächsten Baum an. Es ist eine Platane.

Nur vier Baumkontrolleure kümmern sich um die rund 21.000 Straßenbäume in Neukölln. Foto: Anke Hohmeister

Früher, sagt Herr Schön, hatte der Stadtbezirk eine eigene Baumkolonne von 30 Mann, die Baumkontrolle und -pflege machten. Heute gibt es für ganz Neukölln noch vier Baumkontrolleure – für insgesamt 21 000 Straßenbäume. Die Baumpflegearbeiten werden an private Firmen per Auftrag ausgelagert. Man habe umstrukturiert. Das Wort umstrukturiert betont er, als wäre es bitter oder kalt. Wie kam es zu der Umstrukturierung? „Politik“, sagt er. Und weiter: „Da ham’ wir keine Hand.“

Zurück zu unserer Platane also. Die Baumscheibe der Platane wird genau betrachtet. Treten Wurzeln aus? Hat der Baum genug Platz? Wie ist die Wuchsrichtung, schief oder gerade? Neigt sich ein Baum zu sehr gen Straße, wird seine Krone gestutzt, damit der Baum sie auch noch tragen kann. Mit dem sogenannten Sondierstab stochern wir in Faultaschen, mit dem Resonanzhammer klopfen wir den Stamm ab. Entdeckt man so Anzeichen einer Stammfäule, deren Ausmaß man nicht abschätzen kann, ordnet man eine Nachkontrolle an. In der Nachkontrolle wird diese dann mit einem sogenannten Resistographen genau kontrolliert. Mit einer Nadel wird der Baum dabei angebohrt, die Nadel markiert Ausschläge. Gesundes Holz leistet der Nadel Widerstand – der Ausschlag ist groß –, wo aber Totholz ist, schwindet der Widerstand, die Nadel kann leichterdings in den Baumstamm fahren. An einem der Äste befindet sich eine rundliche Verfärbung. Daran erkennt man, dass der Ast abbrechen wird, sagt Christian Schön. Massaria heiße diese Pilzart, die hauptsächlich Platanen befällt. Erst produziere der Pilz eine rosa Verfärbung der Rinde, dann den sogenannten Abschiedskragen. Trotzdem werden Platanen in Berlin erhalten – zum Beispiel eben auch an der Schillerpromenade.

In Würde altern

In der Baumpflege, das wird mir durch meine Recherchen klar, macht es keinen Unterschied, ob ein Baum jung oder alt ist. Jedem Baum kommt dieselbe Aufmerksamkeit zu. Bäume altern in Würde, sozusagen, unter Aufsicht und Zuwendung, bis sie schließlich gefällt werden. So etwas wie einen Baumfriedhof gibt es nicht. Das Holz wird entweder in Kompostanlagen des Stadtbezirks geschreddert, oder die mit der Baumpflege beauftragten Firmen nehmen das Gehölz mit. Als Brennholz oder Hackschnetzel verkaufen sie den Baum weiter. Jeder Baum wird verwertet, auch nach seinem Ableben.

„Oft wachsen Bäume in jungen Jahren sehr schnell, fahren dann ihr Wachstum zurück und schrumpfen im Alter sogar.“ Zeichnung: Bertram Lorenz

Auf die Frage, welcher Baum sein Lieblingsbaum sei, antwortet Christian Schön: „Alle Bäume sind unsere Lieblinge“, und lacht. Dass sein Chef dasselbe gesagt habe, sage ich. Dass ihm jeder einzelne Baum am Herzen liege, und dass sie alles dafür täten, Bäume zu hegen, zu pflegen und den Baumbestand zu erhalten. Denn letztendlich, so Guido Fellhölter, seien er und seine Mitarbeiter so etwas wie die „Verwalter und Fürsprecher des Straßenbaumbestandes in Neukölln“. Auch hierbei ist es oft eine Frage des Geldes. Manchmal sei es kostengünstiger und zukunftsträchtiger, Bäume nicht zu erhalten. „Aber wir kämpfen, um jeden einzelnen Baum“, sagt Guido Fellhölter. Und irgendwann sagt er auch noch: „Wenn ich ein alter Sack bin, und an einem der Bäume vorbeifahren kann, für dessen Pflanzung ich verantwortlich war, dann werde ich denken: »Hey, schön, dass du auch noch da bist«.”

Dieser Text ist ursprünglich in dem Magazin „Mensch, Alter! Geschichten übers Altwerden im Schillerkiez“ erschienen. Herausgeber ist unser Kooperationspartner „Schillerwerkstatt“.

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