Frank Radix redet noch drüber, in der Hoffnung, dass irgendjemand ihn doch noch hört, doch noch irgendjemand Interesse zeigt. Seit dreizehn Jahren ist er Pächter einer Parzelle in der Kleingartenanlage Hand in Hand e.V. in Neukölln. Die letzten drei Jahre hat er gekämpft, für den Erhalt der Gärten, die Platz machen sollen für den Campus Rütli. Vor knapp zwei Wochen kam die Räumungsvereinbahrung. Ab dem 1. November 2012 wird die Kleingartenanlage Geschichte sein.
Angefangen hat alles 2006, mit einem „Brandbrief“ zur Situation an der Rütli-Schule, den die Lehrer der Hauptschule verfasst hatten. Mit einem Schlag war das Wort „Rütli“ zum Synonym des deutschen Integrationsproblems geworden. Eine hitzige Debatte um gewaltbereite, perspektivlose Jugendliche mit Migrationshintergrund in ‚ghettoisierten’ Kiezen und das deutsche Schulsystem folgte. Auf einmal stand ein lang ignoriertes, unbequemes Thema auf der Tagesordnung. In Neukölln begab sich das Bezirksamt zusammen mit der Stiftung Zukunft Berlin gleich auf die Lösungssuche und ersannen 2007 den Campus Rütli.
Auf dem Campus soll alles untergebracht werden, was von der Kita bis zum Berufseinstieg nötig sein kann – Kita, Grundschule, eine weiterführende Schule, auf der alle Abschlüsse möglich sind, Berufsbildung und –beratung, ein Jugendclub und weitere Freizeitmöglichkeiten, eine Quartiershalle, ein Elternzentrum, eine pädagogische Werkstatt und Räume für Beratende Dienste und einen Kinder- und Jugendgesundheitsdienst. „Sein großes Ziel ist die beispielhafte Verwirklichung eines neuartigen und nachhaltigen Bildungskonzeptes mit Schaffung eines gemeinsamen Sozialraumes.“ Mit dem Campus Rütli soll, so heißt es auf der Webseite weiter, ein „sozialer Erlebnisraum entstehen, der in seinen Modulen einheitliche Bildungsbiographien von der Kindertagesstätte bis zum Eintritt in die Berufsausbildung ermöglicht, alle schulischen Abschlüsse bietet.“ Für all das, was auf dem Campus entstehen soll, braucht man Platz, also sollen die Gärten für das Bildungsvorzeigeprojekt weichen.
In den letzten Jahren hat in vielen Kleingartenanlagen ein Generationswechsel stattgefunden, so auch in der Kolonie „Hand in Hand“. Kleingartenanlagen gelten immer weniger als spießig und piefig, sie ziehen viele junge Familien an. Das Gärtnern hat Hochkonjunktur und Plätze in Kleingartenanlagen innerhalb der Stadt sind heißbegehrt. In vielen europäischen Städten entstehen wieder Community Gärten. Die Menschen wollen wieder ein Stück Natur in der Stadt, sie wollen Obst und Gemüse selbst anpflanzen, wachsen sehen und ernten.
Die Kolonie „Hand in Hand“ ist verwunschener Ort. In den Gärten wachsen Äpfel und Pflaumen, Erdbeeren und Salat; hier gedeiht seit 77 Jahren ein kleines Idyll wild-wirkender Natur. Mit 33 Parzellen gehört sie zu den kleineren Kolonien. In der Kleingartenanlage treffen Menschen aufeinander, die sich im Alltag vielleicht nie begegnet wären. Die älteste Kleingärtnerin ist 90 Jahre alt, eine andere Dame verbindet ein ganzes Leben mit den Gärten, ihre Eltern haben die Kolonie 1935 mit aufgebaut. Die neue Generation der Kleingärtner ist zwischen 30 und Mitte 40 und hat Kinder.
In den letzten Jahren öffneten die Kleingärtner immer öfter ihre Gärten für die Anwohner. Zu 48 h Neukölln zum Beispiel konnte in den letzten Jahren zwischen Bäumen und Stauden Geschichten gelauscht werden, es gab Performances, Musik und Theater.
Dass Bildung elementar wichtig ist und in sie investiert werden muss, wird wohl kaum jemand bestreiten. „Warum“ fragt sich nur Frank Radix „kann man nicht beides haben? Warum kann man nicht die Gärten erhalten und den Campus bauen?“ Die Gärtner haben allerlei Alternativvorschläge gemacht. Sie wollten, dass die Gärten in das Bildungskonzept eingebunden werden. Sie hatten die Idee, hier einen Schulgarten entstehen zu lassen – einen lauschigeren und schöneren hätte ein Schule in Berlin nicht haben können – und sie konnten sich vorstellen, gemeinsam mit den Schülern Projekte zu machen. Mit ihren Ideen sind sie auf taube Ohren gestoßen, Alternativlösungen wurden nicht verfolgt.
Dabei gab es ja es ein Bürgerbeteiligungsverfahren und Veranstaltungen, bei denen die Anwohner ihre Wünsche äußern konnten. 2500 Anwohner des Reuterkiezes hatten sich mit ihrer Unterschrift sogar für den Erhalt der Gärten eingesetzt. Sind die zuständigen Ämter einfach zu phantasielos beides zu kombinieren, ist die Idee eines großangelegten „Leuchtturmprojektes“ zu verlockend oder haben die Planer wirklich keine andere Möglichkeit gesehen? Die Projektleiterin von QM Reuterkiez sagt, dass die Flächen für den Bau des Campus mit all seinen Modulen ganz konkret benötigt werden.
Dann wurde vielleicht schlecht kommuniziert? Die Gärtner haben nach den letzten Jahren das Gefühl, dass trotz aller Bemühungen, aller Nachfragen und aller Briefe das Bezirksamt nie richtig mit ihnen gesprochen hat. Frank Radix versteht nicht, „warum für das eine Gute, das entstehen soll, dass andere Gute, das existiert, zerstört werden muss.“
Die Kleingärtner sind überzeugt, dass sich der Campus Rütli auch anders realisieren ließe und selbst für die Architekten wäre es spannend gewesen, die Gärten in ihre Planung zu integrieren. Vielleicht hätte man ja auch überlegen können, ob nicht einige Module im Grundschulgebäude in der Weserstraße untergebracht werden können.
Nicht eine der politischen Parteien, sagt Frank Radix, hat sich für das Thema interessiert. Vielleicht ist die Verunsicherung zu groß, sich für eine andere Lösung einzusetzen, weil unterstellt werden könnte, man sei gegen die Verbesserung der Bildungssituation.
Frank Radix hat das Gefühl, dass die Politik aus Ratlosigkeit das Projekt Campus Rütli mit allen Mitteln und in der gewählten Form durchziehen will. Denn so neu ist die Idee der Gemeinschaftsschule – zusammengeschlossen haben sich schon 2009/ 2010 die Franz-Schubert-Grundschule, Rütli-Hauptschule und die Heinrich-Heine-Realschule – nun auch wieder nicht. Und was bringt es, fragt er sich, wenn auf einem Gelände neue Gebäude stehen, aber sich innerhalb der Schulen nichts verändert. Wenn zum Beispiel nicht mehr Lehrer eingesetzt und Klassen verkleinert werden. Und führt allein die Umgestaltung eines Schulgeländes zu mehr Identifikation von Schüler mit dem Wohnraum? Wäre nicht auch ein Garten in dem Schüler und Anwohner aufeinander treffen eine Möglichkeit der Begegnung und Identifikationsstiftung für beide Seiten gewesen?
Zum Ende des Jahres werden die Gärten schließen. Alle rechtlichen Mittel sind ausgeschöpft. Dann sollen die Gärten abgeholzt werden. 25,5 Millionen Euro soll die Bebauung und Umgestaltung der Fläche des Campus Rütli kosten. 20 Millionen wurden beim Land Berlin für die Jahre 2015/ 2016 beantragt.
Die Fläche der Kolonie soll ab 2014 bebaut werden. Hier entsteht dann ein Neubau für Arbeitslehre und für Berufsorientierende Angebote. Bis es mit dem Neubau zwischen Rütli-, Pflüger- und Weichselstraße losgeht, wird für einige Zeit, dort, wo jetzt die Gärten sind, eine Brachfläche klaffen.
Letztlich geht es noch um einiges mehr, als um die Schießung einer Kleingartenanlage. Es geht auch um die Frage, ob der Campus Rütli in dieser Form die beste Lösung nicht nur bildungspolitisch, sondern auch stadtteilpolitisch und finanzpolitisch für das Problem ist.
2016, spätestens 2017, da sind die Planer sehr optimistisch, soll der Campus Rütli fertig gestellt sein, dann soll die Gemeinschaftsschule an einem Ort ihre Arbeit aufnehmen. Bei all den geplanten und sich im Prozess befindenden Großprojekten in Berlin zeigt sich, dass sie oft nicht nur teurer werden, sondern sich auch in die Länge ziehen.
Dann ist der „Brandbrief“ der Rütli-Schule 10 oder 11 Jahre, vielleicht auch 13 oder 14 Jahre her. Mit welchen Problemen der Kiez, der sich jetzt schon im Gentrifizierungsprozess befindet, dann kämpfen wird, steht in den Sternen und auch ob der Campus Rütli, dann die Schüler, für die er erbaut wird, überhaupt erreicht.