Prolog: (Wer mit den Unsäglichkeiten der Fashion-Industrie bereits vertraut ist, möge diesen Teil überspringen!)
Seit den 90ern heißt das Erfolgsmodell der Modeindustrie: Fast Fashion. Kleidung wird immer schneller produziert – vom Entwurf bis zur Auslieferung eines Kleidungsstückes dauert es oft gerade mal 14 Tage -, immer schneller konsumiert, immer schneller entsorgt.
Ob wir dabei absoluten Billo-Preisen hinterherhecheln und uns mit Kunstfaserklamotten die Rollwägelchen vollballern (Primark), oder ob wir gediegen durch urban-minimalistische Kleiderreihen flanieren (COS), macht vielleicht für unser Selbstbild einen Unterschied. Für die Näherin in Bangladesch macht es keinen. Kaufen wir ein T-Shirt für 4,99 €, bekommt sie einen Lohnanteil von 13 Cent. Kaufen wir eines für 29 €, verdient sie 18 Cent. Die Textilkonzerne stehen unter Druck, möglichst billig zu produzieren.
90 Prozent unserer Kleidung wird in Asien hergestellt, in Ländern, wo es ein Überangebot an Arbeitskräften und laxe Arbeitsschutzbedingungen gibt, und wo Gewerkschaften praktisch keine Macht haben. Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die ArbeiterInnen ausgebeutet werden. Sie müssen sechs Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag oder mehr arbeiten. Sie wissen, dass sie sich mit ihrer Tätigkeit in Lebensgefahr bringen. Verheerendstes Beispiel war der Einsturz der bengalischen Textilfabrik Rana Plaza im Jahr 2013. 1127 Menschen tot, 2438 verletzt. Die Bilder der Verschütteten und der verzweifelten Hinterbliebenen gingen um die Welt. Und was passierte? Die Deutschen kauften im Jahr nach der Katastrophe mehr denn je, Bangladesch steigert seine Exporte stetig. Die Überprüfung der Sicherheitsstandards in den Fabriken geht derweil nur schleichend voran. Immer wieder kommt es zu verheerenden Bränden.
Umdenken
Aushalten kann man das eigentlich nur durch eine alte psychologische Bekannte: die Verdrängung. Geht ja auch gut, die Verbrechen passieren anderswo. Aber: Immer mehr ProduzentInnen und KonsumentInnen wollen es besser machen. Und Berlin ist (noch) Vorreiter, wenn es um alternative Lebensstile geht. An Flohmärkten und Secondhand-Läden mangelt es nicht. Und auch faire, ökologisch hergestellte Kleidung hat in den letzten Jahren ihr „Müslifresser“-Image abgelegt. Oder? Die Autorin kennt kaum jemanden, der bei seiner Kleidung auf deren Biogehalt achtet. Zu teuer? Nicht, wenn man weniger kauft, die Sachen länger trägt. (Wir kaufen heute viermal so viel Kleidung wie 1980. Dabei sind zwei Fünftel unseres Schrankinhalts ungetragen.) Zeit also, sich die tollen Läden mit fairer Mode in Neukölln endlich einmal anzuschauen.
Das Siegel der Wahl
Um das Phänomen des Greenwashing, also den ökologischen Gedanken als Marketingzweck, zu umgehen, haben wir uns nur Läden rausgepickt, die entweder upcyclen, oder bei der Auswahl ihrer Stoffe und Kleidung auf eine GOTS-Zertifizierung achten. Derzeit ist GOTS, der „Global Organic Textile Standard“, das anspruchsvollste Siegel, wenn man Mensch, Tier und Natur entlang der Produktionskette schützen möchte. Es ist nicht perfekt, aber die Beziehungen sämtlicher Akteure in der Textilbranche sind so komplex, dass es derzeit noch keine bessere Alternative gibt.
Und los geht’s…
Kollateralschaden (Bürknerstr. 11)
Es gab einen Kollateralschaden, sagt man, wenn man den Schuldigen nicht benennen will. Für Philippe Werhahn war die Wahl seines Ladens auch Provokation an eine unethische Textilindustrie. Zu oft haben ihm die großen, westlichen Modeunternehmen weggeschaut, die Verantwortung für unmenschliche Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten bestritten. Leuchtstoffröhren tauchen seinen Laden in ein kühles Licht, von der Decke baumeln Fahrradreifen, auf die weiche, unifarbene Pullover aufgereiht sind.
Verzicht auf Chemikalien
Das Besondere seien ihre Ärmel, erklärt Werhahn. „Der Kolla-Ärmel garantiert maximale Bewegungsfreiheit. Er ist so konzipiert, dass der Rumpf sitzen bleibt, egal in welche Richtung man die Arme bewegt.“ Durch diese spezielle Eigenheit kann man bestimmte Teile sowohl als Kleid wie auch als Pullover tragen. Versprochen werden zwei Jahre Garantie auf Nähte, sowie ein Austausch der Bündchen, falls nötig. Der Biogehalt seiner Kleidung ist Werhahn wichtig. „In der herkömmlichen Herstellung von Kleidung stehen die Arbeiter teilweise den ganzen Tag in irgendwelchen Chemikalien, nach einem Jahr sind die einfach tot“, empört er sich. „Und wenn wir die Sachen dann anziehen, wissen wir nicht, wie sich die ganzen Chemikalien auf uns auswirken. Dazu gibt es keine Studien.“
Standard. Saubere Sachen (Reuterstraße 53)
Ein schlichtes, schwarzes Kleid, hergestellt aus Treibnetzen. Eine Kaffeetasse aus zusammengepresstem Kaffeesatz. Wundersame Dinge findet man im Laden von Katharina Beth und Katrin Hieronimus. Zu jedem Stück in ihrem Laden können sie etwas erzählen, die „grüne Geschichte dahinter“. Die Kostüm- und Bühnenbildnerinnen haben sich hier ihr Idyll vom ethischen Konsum eingerichtet. Holzoptik, Schlichtheit, liebevolles Design bis zum letzten Spielzeugelefanten – der Laden könnte sich ebenso in Kopenhagen befinden.
Frauen als Label-Chefinnen
Wir finden ausgewählte faire Labels. Es gibt die populäre Mud Jeans aus Holland, die aus alten Jeans recycelt wird und ohne Leder und giftige Chemikalien auskommt. Bringt man eine alte Jeans in den Laden, bekommt man 10€ Rabatt auf eine neue. Dann sind da noch Labels wie Lovjoi, Studio Jux und Stanley & Stella. Die Standard-Frauen kennen fast alle FirmeninhaberInnen persönlich, Kontakte entstehen etwa auf der Ethical Fashion Week. Zwar gibt es auch Sachen für Männer (und Kinder!), aber die feminine Note des Ladens besticht. „Es ist lustig“, erzählt Beth, „fast alle unserer Labels werden von Frauen geführt.“
Wesen (Tellstraße 7, Ecke Weserstraße)
Mareike Ulman, eine der Gründerinnen von Wesen, sagt, sie habe es anders machen wollen. Nach ihrem Modedesign-Studium an der HTW Berlin machte sie keine Luxusmode oder ging zu einem großen Konzern, sondern gründete einen Laden für menschen- und umweltfreundliche Kleidung – Wesen. Das war 2008, als das Fair in Fashion noch keiner auf dem Schirm hatte. Wesen ist damit ein Urgestein in der Branche. Neben ihrer eigenen Marke Format vertreibt Ulman noch schöne Dinge wie Schuhe – vegan oder aus vegetativ gegerbtem Leder, bei dem auf den Einsatz des giftigen und Krebs verursachenden Chrom-VI verzichtet wurde -, Schmuck von zwei Berliner Goldschmiedinnen, Unterwäsche und Taschen.
Shio (Weichselstraße 59)
Vier Designerinnen, vier unterschiedliche Labels, ein Laden – Shio. Allesamt Expats – aus Norwegen, USA, Kanada und Australien – haben sich Kate Pinkstone und Co. den Traum vom eigenen Laden verwirklicht. Die Schnitte und Farben sind so unterschiedlich wie ihre Designerinnen – so kommen sowohl Minimalistinnen mit Berliner Farbspektrum Schwarz/Weiß als auch Exzentrikerinnen mit Vorliebe für wilde Muster und Stoffapplikationen, hier auf ihre Kosten. Allerdings unterscheiden sich die verschiedenen Labels durchaus in punkto Nachhaltigkeit.
Nachhaltig, aber teuer?
Während Jeanette Bruneau Rossow (Label: Treches) bei der Fertigung nicht mal Plastik verwendet, auch nicht im Garn, „weder Mensch noch Natur soll durch mich zu Schaden kommen“, kann sich Kate Pinkstone (Shio) noch nicht dazu durchringen, ökologisch und fair produzierte Stoffe zu nutzen; die seien halt teurer. „Aber langfristig will ich mich auch umorientieren.“ Upcycling betreiben die jungen Designerinnen schon, und zwar mit großer Lust an Gestaltung; da wird aus einem muffigen Altherren-Hemd ein Top, aus einem Handtuch ein Pullover (ohne wie eine olle Frauenzeitschrift zu klingen, aber der hat Lieblingsstück-Potenzial! Klang jetzt doch so. Mist.)
Studio Hertzberg (Sonnenallee 174)
In einem ruhigeren Winkel unseres Bezirks befindet sich ein weiteres Designer-Juwel. Ganze 11 Modemacherinnen haben sich im Studio Hertzberg zusammengefunden, um Kleidung zu kreieren. Upcycling ist hier das große Ding. Ins Auge stechen besonders die zarten BHs und Höschen aus Spitze. Überschüsse bei der Produktion in Textilfabriken, erklärt uns die Dame an der Kasse.
Hat sonst keine(r)!
Ansonsten viele Rüschen, ausladende Schnitte, Extravaganz. Hier wird Feminität in aller Form gefeiert. Jedes Kleidungsstück ist ein Unikat; es ist ein anderes Gefühl, sich hier ein Kleidungsstück auszuwählen, als eines von der Stange bei Zara, das dann auch Hunderttausende andere haben. So langsam kommt Geschmack auf; man hat Lust, diese neue, bewusstere Form des Konsums auszuprobieren. Nicht nur das gute Gewissen ist dabei entscheidend; auch die Eitelkeit ist in diesem Fall ein guter Berater. Es macht Spaß, etwas zu besitzen, das sonst keiner hat.
Wood Stories (Karl-Marx-Platz 15)
Bei Wood Stories begrüßen uns kleine Elefanten und Frösche; liebevoll gestaltete Kinderrucksäcke, aus alten Plastikflaschen hergestellt. Der Verkaufsraum ist hier gleichzeitig auch Werkstatt. Die Rucksäcke ergänzen ein ansonsten cleanes, geradliniges Angebot. Hochwertige Materialien wie Seide (gewaltfrei!, d.h. die Schmetterlingskokons werden so aufgeschlitzt, dass die Tiere dabei nicht zu Schaden kommen) und Wolle (Bio!) geben den Ton an. Öko im Sinne von wallenden Pluderhosen und Henna im Haar ist hier gar nix; die Kundin von Cos oder Acne würde sich ebenso wohl fühlen wie in den von ihr sonst gewählten, kommerziellen Modeketten. Ein weiterer Beweis dafür, dass man sich nicht entscheiden muss zwischen Ästhetik und ökologischem Gewissen.
Weitere empfehlenswerte Läden:
Süßstoff: Mode und Krimskrams, alles vegan, fast alles Bio und Fair Trade.
Kienitzer Straße 91
Jyoti: Kleidung wird fair in Indien produziert, viele Stücke sind aus besonderen handgewebten Stoffen.
Okerstraße 45
Für besonders Interessierte empfiehlt sich die Green Fashion Tour Berlin. Die gibt’s auch durch andere Bezirke. In Neukölln das nächste Mal am 1. Dezember 2017.
Wer selbst Mode in Neukölln (und drumherum) entwirft, und an einem Austausch mit Gleichgesinnten sowie ganz konkreter betriebswirtschaftlicher Unterstützung interessiert ist, der kann sich bei Nemona e.V. melden.