Seine Henker hatten nur wenig Zeit. 57 Gefangene sollten am 24. Oktober 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet werden. Ein Sportler war unter ihnen. Die Hände auf den Rücken gefesselt, führten ihn zwei Beamte zum Schafott. Laut den Akten des Volksgerichtshofs legte sich der Gefangene „ohne Widerstreben“ unter das Fallbeil. Um 12.36 Uhr hatte der Scharfrichter sein Werk vollbracht. Werner Seelenbinder war tot – der letzte Kampf des Neuköllner Ringers verloren.
Zuvor hatten die Nazis das dritte Gnadengesuch des sechsmaligen Deutschen Meisters abgeschmettert. Werner Seelenbinder wollte kein Märtyrer sein. Auch wenn die DDR später den überzeugten Kommunisten und Widerstandskämpfer zu einem ebensolchen machen sollte. Die SED manipulierte seinen Abschiedsbrief. Seine Biografie „Der Stärkere“ war eine retuschierte Heldensage und Pflichtlektüre im sozialistischen System. Straßen und Schulen trugen seinen Namen. Die Verehrung für den Ringer kannte im Osten keine Grenzen während Seelenbinders Geschichte im Westen fast in Vergessenheit geriet.
Der verweigerte Hitlergruß
Erst 2004 wurde das Sportzentrum in der Neuköllner Oderstraße wieder nach ihm benannt. Bereits zwischen 1945 und 1949 diente die Kampfbahn als seine Gedenkstätte, dessen Name aber zu Zeiten des Kalten Krieges wieder verschwinden musste. Kommunisten sollten im damaligen Westsektor Berlins keine Verehrung erfahren. Dabei gründete die Hinrichtung Seelenbinders mehr in einem dummen Zufall, denn in seinem politischen Engagement, obwohl der Sportler auch dadurch bekannt wurde, dass er 1933 den Hitlergruß verweigerte und das Nazi-Regime öffentlich bloßstellte.
1904 wird Seelenbinder in Stettin geboren. Fünf Jahre später bezieht die Familie ein Haus in der Glatzer Straße in Friedrichshain, nahe dem Ostkreuz. Der Junge besucht die Volkschule und arbeitet als Transportarbeiter bei AEG in Treptow. In seiner Freizeit macht er Krafttraining im Arbeitersportclub „Eiche“. Als seine Mutter 1915 stirbt und der Vater als Soldat in den 1. Weltkrieg ziehen muss, wendet er sich dem Ringersport zu. Er geht nach Neukölln und trainiert beim SC Berolina. Ehemalige Vereinskollegen beschreiben ihn als zäh und ausdauernd. Abseits der Kampfmatte gibt sich der Hüne äußerst bescheiden – kein Job ist ihm zu schade. Seelenbinder arbeitet unter anderem als Page, Hausdiener und Hilfstischler in einer Nähmaschinenfabrik.
Fairer Ringer mit ungestümen Kampfstil
1925 stellen sich die ersten Erfolge ein. Er kämpft im griechisch-römischen Stil und belegt den 1. Platz bei der Arbeiterolympiade in Frankfurt am Main. Bei den Wettkämpfen ist ihm Taktieren völlig fremd und er zeigt sich als fairer Ringer. Aufgrund seines ungestümen Kampfstils wird er für viele zum Vorbild. Seine Spezialität ist der Hüftwurf, den die sowjetischen Ringer ehrfürchtig den „Seelenbinder“ nennen, als er in Moskau bei der 1928er Spartakiade – dem kommunistischen Ableger der Olympiade – Gold im Halbschwergewicht gewinnt. Kurze Zeit später tritt er in die KPD ein.
Da es Seelenbinder ablehnt, als Berufsringer in Schaukämpfen 30 Mark pro Abend zu verdienen, ist sein Leben während der Weltwirtschaftskrise von Arbeitslosigkeit geprägt. Er verabscheut das nationalistische System und trägt es schließlich mutig zur Schau. Im Saalbau Friedrichshain erringt er 1933 den Deutschen Meistertitel. Als bei der Siegerehrung die Nationalhymne erklingt, bleibt der Arm von Werner Seelenbinder unten. Es ist eine Provokation sondergleichen – die öffentliche Verweigerung des Hitlergrußes. Drei Wochen später wird er verhaftet, von der Gestapo verhört und schließlich ins KZ am Columbiadamm verschleppt. Freunde im Ringer-Verband setzen sich für ihn ein und Seelenbinder kommt frei. Erst Monate später kommt die Aufhebung der Sperre des Reichsverbandes, auch weil er der einzige Deutsche in seiner Kampfklasse ist, der bei der anstehenden Heim-Olympiade in Berlin reelle Siegchancen besitzt.
Der große Plan für die Olympiade
Und diesmal lässt sich Seelenbinder bewusst vor den Propaganda-Zug spannen, tut so als hätte er sich mit den Machthabern arrangiert. Denn er hat einen Plan. War sein Protest bei der Deutschen Meisterschaft noch still gewesen, so will er im Falle des Olympiasiegs auf dem Podium eine kleine Rede halten. Ein Zeichen setzen, damit die Welt sieht, dass in Deutschland nicht nur systemkonformer Gehorsam vorherrscht. Zuvor nutzt er seine Auslandsreisen für die Widerstandsarbeit und gibt unter anderem Briefe weiter. Die Legende, er habe von der KPD-Führung dazu den Auftrag bekommen, hält sich lange, vor allem in der DDR, doch wurde der Entschluss selbstständig im kleinen Kreise gefasst, was damalige Briefe des Seelenbinder-Mentors Erich Rochler bestätigen.
Es kommt der 1. August 1936. Monatelang hat er sich für diesen Tag geschunden, selbst an seiner Taktik gefeilt. Denn bei Olympia bestimmt das von ihm so ungeliebte Punktesystem den Sieger, nicht wie im Arbeitersport üblich der Schultersieg. Kurz vor Turnierbeginn werden Freunde von Seelenbinder verhaftet, auch er muss jetzt die Enttarnung fürchten. Der Druck ist immens. Gleich der erste Kampf gegen den Letten Bietags geht verloren. Seelenbinder kämpft sich mit zwei Siegen zurück ins Turnier, doch beim Schweden Cadier ist Endstation. Der Deutsche verliert und wird am Ende nur Vierter. Das Podest und die Rede bleiben ihm auf ewig verwehrt.
Hilfsbereitschaft besiegelt sein Schicksal
Nach Olympia wird er noch drei Mal Deutscher Meister und zieht sich 1938 ins Private zurück. Um das nötige Geld zu verdienen, lässt er sich im Mariendorfer Eisenwerk Wannheim zum Schweißer ausbilden. Drei Jahre lang lebt er unbehelligt, bis er zufällig einen alten Freund wieder trifft und um einen Gefallen gebeten wird. Alfred Kowalke ist ein hoher Funktionär der verbotenen KPD und braucht ein Quartier. Seelenbinder nimmt ihn bei sich auf, doch Spitzel haben es mitbekommen. Am 4. Februar 1942 dringt die Gestapo in seine Wohnung ein. Zweieinhalb Jahre dauert die quälende Haft in sieben verschiedenen Gefängnissen und Straflagern im Umland Berlins, ehe er abgemagert und geschunden am 24. Oktober 1944 auf das Schafott geführt wird.
Vor seinem Tod verfasste er noch einen Abschiedsbrief an den Vater, der nach dem Krieg in den Archiven der SED verschwindet. Das einzige, was die Nachwelt zunächst überliefert bekommt, ist folgende Erklärung: „Genossen, Kameraden! Bald werde ich nicht mehr unter den Lebenden verweilen. Meinen Kampf für Frieden und Sozialismus muss ich mit dem Leben bezahlen. Ich habe keine Angst vor dem faschistischen Henkerbeil, doch ich bin traurig, dass ich den Zusammenbruch des Faschismus und den Sieg des Sozialismus in Deutschland nicht mehr miterleben kann. Mein Wunsch, die rote Fahne durch Berlin tragen zu dürfen, bleibt mir unerfüllt, doch die Kameraden, die an meine Stelle treten, werden genauso stolz das rote Banner der Freiheit tragen. Genossen, lasst mich in euren Herzen weiterleben!“
Bereits 1962 zweifelte der Seelenbinder-Mentor, Erich Rochler, die Echtheit der überlieferten, letzten Worte des Ringers an. Und auch die Seelenbinder-Biografin Martina Behrendt sagte der Märkischen Allgemeinen Zeitung im Jahr 2004: „Nach allem was ich über Seelenbinder weiß, hätte ihn dieser Umgang mit seiner Biografie angewidert.“
Erstveröffentlichung auf neukoellner.net am 2.4.2013.
Archivmaterial ©Museum Neukölln – In Zusammenarbeit mit dem Geschichtsspeicher des
Kommentare:
Ein wunderbarer Artikel – vielen Dank!
Hallo,freue mich über diesen Artikel.
Habe nie verstanden warum die neue Radsporthalle oder eine andere Sportstätte nicht nach ihm benannt wurde.
Vielleicht weil er Kommunist und „nur“ Ringer war?
Gerade deshalb,Danke.
Bitte link auf Zeitung mit Zweifel von Frau Behrendt am veröffentlichten letzten Willen überprüfen! Und: Es wäre doch wichtig, endlich den gesamten Brief zu dokumentieren.
Schön, den Text wieder zu lesen! Auch ein Hinweis auf den Trainingsort und die Tafel an der Knrad-Agahd-Schule in Neukölln sei mir erlaubt.
Was wäre wohl aus dem Ringkampfsport, vor allem aus dem Arbeitersport ge-
worden hätte Werner Seelenbinder überlebt…
Daran, wie aufrichtig und fair seine Rolle spielte, diesen Weg wird wohl so schnell keiner mehr gehen in Zeiten, da der Profit zur heiligen Kuh erkor und wirklich über alles gestellt wird.
So Privak kann es nicht gewesen sein, wenn er 1941 (laut wikipedia) nochmal deutscher Meister geworden ist.
So privat kann es nicht gewesen sein, wenn er 1941 (laut wikipedia) nochmal deutscher Meister geworden ist.