Die Geschichte eines Chamäleons

Sonnenallee_nk

Kaiser-Friedrich-Straße um 1910.

Die Sonnenallee ist wohl eine der buntesten Straßen Neuköllns, und das liegt auch an ihrer abwechslungsreichen Geschichte. Unser Startschuss für ein ausführliches Straßenportrait zur Sonnenallee auf neukoellner.net.

(mehr …)

Montag, 28. Juli 2014

Sie hat vieles kommen und gehen sehen. Sie war Aufmarschgebiet für kommunistische Paramilitärs, Industriegebiet, sozialer Brennpunkt und Außengrenzposten. Heute gibt es wohl kein Mobiltelefon, welches man nicht auf ihr kaufen kann. Schon bald wird auf ihr das höchste Gebäude Berlins stehen. Sie bleibt eben flexibel, wandelt sich mit der Zeit. Jede Kategorisierung über sie scheint unangebracht, denn sie ist eben das, was sie ist: Eine Straße, welche sich niemals treu bleiben kann, weil ihre Bewohner das aus ihr machen, was sie wollen.

Ihre Geschichte beginnt unspektakulär. 1880: Ein kleiner Feldweg in einem sumpfigen Gebiet Rixdorfs. Sie heißt schlicht Straße 84. Als Kaiser Friedrich III. stirbt, bekommt sie seinen Namen und wächst stetig um die Jahrhundertwende. Die Industrialisierung kommt, und mit ihr Fabriken, Brauereien und Schwerindustrie. Aber auch wichtige Schulen werden gebaut. Einher formiert sich eine linke Arbeiterbewegung, die die Straße im November 1918 zum Kampfgebiet erklärt. Zwei Jahre nach der Revolution erhält ein Teil schließlich ihren heutigen Namen. Sonnenallee.

Rotkämpfer, Arbeitersportler, Nazis

Ab dem 16. August 1928 heißt auch ihre südöstliche Fortsetzung so. Die Sonnenallee reicht nun bis zur Baumschulenstraße in Treptow und wird alsbald bis zum Hermannplatz verlängert. Hier marschiert der Rotfrontkämpferbund Richtung Hasenheide in die Neue Welt, hier trainiert der Ringer und Held des Arbeitersports, Werner Seelenbinder, auf den zahlreichen Sportplätzen. Den Nazis ist der Ort offenbar zu „sonnig“. Sie benennen die Sonnenallee in Braunauer Straße um – nach Braunau am Inn, dem Geburtsort Adolf Hitlers.

Erst nach dem Krieg bekommt sie ihren Namen zurück und wandelt sich abermals in ihrem Gesicht. Sie wird zur Einkaufsstraße des Ostens und wichtigen Durchgangsstraße für den Verkehr. Sie bekommt eine S-Bahn- und Straßenbahnanbindung, entwickelt sich darüber hinaus zur Prachtstraße. Eine Allee, die zum Flanieren einlädt. Es bleibt eine kurze Blütezeit: Die Mauer wird gebaut. Dank ihr wird sie zur Einbahnstraße und Sackgasse, Bahnhöfe werden zu Endhaltestellen und der Grenzübergang zum Todesstreifen. Viele Geschäfte machen dicht. Die Flaniermeile ist nicht mehr. Bis zum Mauerfall.

Orientalische Düfte und Filmdrehs

1994 eröffnet mit dem Hotel Estrel auf der Sonnenallee das größte Hotel Deutschlands. Und nach und nach weht ein orientalischer Duft durch ihre Schluchten. Es herrscht kulturelle Vielfalt. Manche sagen nun, auf ihr gibt es das beste Hähnchen oder den besten Döner. Außerdem kann man hier fast alles kaufen. Legal oder illegal? Scheißegal! Ironie der Geschichte: Erst durch ihre Teilung durch die Mauer erreicht sie bundesweite Berühmtheit. Leander Hausmann dreht 1999 einen Film, der ihren Namen trägt. Und viele Menschen verbinden die Sonnenallee nun mit der DDR, obwohl der Abschnitt durch Treptow nur 400 Meter lang ist. Die restlichen 4,5 Kilometer verlaufen durch Neukölln.

Auch im 21. Jahrhundert wird die Veränderung der Sonnenallee vorangetrieben. Ein Sanierungs- und Neubaugebiet ist ausgeflaggt, eine nachhaltige Entwicklung und Stabilisierung der Geschäftsstraße geplant. Der Chef des Hotel Estrel will dazu sein Imperium vergrößern. Das Turmbau-Megaprojekt in Zahlen: 814 Zimmer, 46 Etagen, 175 Meter – das größte Haus Berlins auf der Sonnenallee.

Ping Pong im Kellergewölbe

Neben ihrer Kriminalitäts- und Hartz-IV-Problematik hat sie sich auch zur modernen Ausgehmeile gewandelt. In ihren Kellergewölben spielt man Ping Pong und feiert Elektro-Partys am Schifffahrtskanal. Die Späti-Landschaften blühen und im Sommer rollen die Rollkoffer der Touristen.

Und die Straße? Sie wird so anpassungsfähig bleiben wie bisher – das Chamäleon Neuköllns. Oh du schöne, unbeständige Sonnenallee!

 

Und darum starten wir auf neukoellner.net auch das Sommerfeuilleton zur Sonnenallee. Jede Woche liefern wir euch Texte, Portraits und Videos zu der buntesten Straße des Bezirks. Der Sommer in der Sonne!

Archivmaterial, falls nicht anders genannt, ©Museum Neukölln – In Zusammenarbeit mit dem Geschichtsspeicher Neukölln.


 
Au ja, ich spende via: PayPal | Überweisung | Bankeinzug | Flattr

Kommentare:

  • Thomas sagt:

    Nice 🙂 Bin gespannt, auf welche Beiträge wir uns beim Sommerfeuilleton freuen dürfen.

  • Michael Eggert sagt:

    Wann bekam der süd-östliche Teil den Namen Sonnenalle – es war umgekehrt: vom Arbeitsamt bis zum Baumschulenweg hieß sie zu erst so (nämlich als Teil des Planeten-Viertels; wer zum 1929 gebautem Arbeitsamt mußt, sagte: „Ick muß heute noch zur ´Sonne´). Eine Staßenbahnlinie 98 fuhr von Köpenick bis nach Pichelsdorf / Spandau in den 20er / 30er Jahren. Die Ringbahn(mit heutigem S-Bhf.) gab es schon als Neukölln noch Rixdorf hieß. Lange Zeit fuhren durch sie oder kreuzten sie 8 Straßenbahnlinien und zur selben Zeit 2 Buslinien (der 4er und ein 90er). Straßebahnen verbanden Zoo über Sonnenalle zur Buschkrugallee (die 6), Heiligensee (die 2), über Fehrbelliner Platz gind es bis zum Wedding (die 3), mit der 15 nach Tempelhof / Mariendorf, die 94 führte üben Kottbusser Damm zum Spittelmarkt in Mitte, die 95 über Urbanstraße u. Hallische Tor mit Knick nach Süden zum Tempelhofer D. Eine Allee zum Flanieren wurde sie schon vor dem I.Weltkrieg mit vier Baum-Reihen (knapp 500 Linden), zwei davon auf der 8m breiten Promenade mit Bänken zwischen den Hecken. Dawo heute Autos parken spielten Kinder, flanierten abends die Pärchen und in hunderten(kleiner) Läden zusammen bekammst Du eine größere Wahren-Palette als heute bei Karstadt. Die große Veränderung began als in den 50er / 60er Jahren -immer noch ohne Ampeln- auf der Sonnenallee 10 Fußgänger tot gefahren wurden, jährlich(!). Heute kann keine Mutter mehr ihr Kind einem Straßenbahn-Schaffner anvertrauen, der dafür sorgt, daß es bis nach Heiligensee zur Oma mitfährt.