Ob Klima, Finanzwirtschaft oder Flüchtlinge – viel wurde und wird geredet über globale und gesellschaftliche Missstände, allein es tut sich nichts. Und Fragen drängen sich auf: Ist Demokratie noch für die Menschen da? Oder braucht es neue Regelungen, um die menschlichen Bedürfnisse wieder in den Mittelpunkt politischen Handelns zu rücken? Und wenn ja, wie kommen wir zu neuen Vereinbarungen?
Initiatoren und Mitglieder des Haus Bartleby, dem selbst ernannten Zentrum für Karriereverweigerung, haben sich dazu ein Prozedere ausgedacht: das „Kapitalismustribunal“. Auf ihrer Webseite sammeln sie Anklagen gegen Schuldige für Verbrechen des Kapitalismus – und jeder ist eingeladen mitzumachen. Dazu hat sich die kleine Neuköllner Inititative große Partner wie The Club of Rome oder die Heinrich-Böll-Stiftung gesucht.
Auf einer ersten Podiumsveranstaltung im Heimathafen Neukölln informierten Experten über drängende Fragen in Sachen Ökologie. Weitere Veranstaltungen zu Ökonomie und geltendem Recht werden folgen. Das alles passiert in Vorbereitung auf das Tribunal selbst, das im November 2015 in einem Theater in Wien stattfinden wird. Während einer Gerichtswoche werden eingegangene Klagen mit dem selbstbewussten Ziel verhandelt, dass am Ende der Prozesse Vorschläge für neue Rechtsvereinbarungen entstehen.
Ist das Bürgerengagement, also Politik von unten, politische Kunst? Im Raucherzimmer ihres Stammitalieners am Körnerpark erklären Alix Faßmann, Anselm Lenz, Jörg Petzold und Hendrik Sodenkamp vom Haus Bartleby, wie ernst es ihnen damit ist.
neukoellner.net: Warum ist der Kapitalismus ein Verbrechen?
Jörg: Mein Gefühl für Gerechtigkeit weicht deutlich ab von dem, was ich als Rechtsprechung wahrnehme, zum Beispiel bei der Regenwaldabholzung, wo gewisse Unternehmen aktiv sind. Oder auch bei der Diskussion um Arbeit und die Gerechtigkeit von Gehältern. Das muss in Frage gestellt, das muss angeklagt werden. Immer wenn man tiefer nachschaut, warum sich die Dinge nicht zum Besseren verändern, merkt man, dahinter steht, einzig und allein ein kapitalistisches, ein finanzielles Interesse – von Eigentümern, von Investoren, die wider besseren Gewissens und Wissens diese Unternehmungen vorantreiben und die Probleme aktiv und bewusst verschlimmern. Deswegen sehe ich das kapitalistische System als verbrecherisch an.
Alix: Insbesondere das Karrieresystem in der Arbeitswelt ist eine wunderbar erlebbare Welt für unsere Art zu wirtschaften. Für die frenetische Art des Wirtschaftens, die den Planeten an seine Grenzen treibt, jeden einzelnen an seine Grenzen treibt, bzw. er erlebt, wie er sie überschreiten muss und irgendwie vor die Hunde geht. Und das aber auch zu einem immer schlechteren Deal.
Anselm: Mittlerweile geht ja schon die zweite Generation in Europa in eine sozioökonomische Verabredung herein, die sie massiv benachteiligt. Zudem soll sie auch noch diese großen Schulden abbezahlen, die unsere Staaten in Europa aufgetürmt haben. Das heißt, wir finden nicht nur das ökonomische und ökologische Desaster vor, sondern an der Stelle auch das soziopsychologische Desaster, dass wir nun eine ökonomische Verabredung reparieren sollen, die uns alte Männer vor die Wand gefahren haben. Warum sollen wir das tun?
Über globale und gesellschaftliche Missstände wurde schon viel geredet und geschrieben. Wie wollt ihr tatsächlich etwas verändern?
Jörg: Bei allen Gesprächen, die wir bisher geführt haben, kam immer wieder der Punkt, dass Leute gesagt haben, es fehlt an der konkreten Umsetzung, an der Bereitschaft der Menschen, tatsächlich etwas zu ändern, an der Bereitschaft der Politiker, was zu ändern, weil sie eben sagen, wir wissen genau, was zu tun ist, aber wir können es nicht, weil wir dem Geld verpflichtet sind oder andere Sachzwänge haben. Und genau das ist der Punkt, warum wir als Haus Bartleby, dem Zentrum für Karriereverweigerung, dieses Tribunal anstoßen, weil ich in dem Moment, wo ich sage, „I would prefer not to“ – wie Mr. Bartleby in Melvilles Roman –, diese Veränderung selber schon beginne. Und diese Haltung „I would prefer not to“ ist für alle gleichermaßen möglich: für Politiker, Wissenschaftler, Zerspanungsfacharbeiter, Postboten … Jeder Mensch kann anklagen und jeder Mensch kann auch sagen: Ich mache da nicht mehr mit.
Alix: Das Wesentliche ist eine neue Haltung. Sich zu verbünden mit Menschen, mit denen man etwas Neues entwickeln kann. Denn damit werden wir natürlich auch in Schach gehalten, dass ständig von einer großen Alternativlosigkeit gesprochen wird, die dazu dient, die Leute an der Maschine zu halten. Es geht darum, sich selbst zu ermächtigen.
Aber wie sollte das „Kapitalismustribunal“ zu einem realen Veränderungsprozess beitragen können?
Anselm: Das „Kapitalismustribunal“ glaubt an die Macht des Argumentes, des gesprochenen Wortes, des Beweises und der Aushandlung zwischen Menschen. Also wir gehen von einem sehr positiven, tendenziell humanistischen Menschenbild aus. Dass Menschen bereit, willens und auch in der Lage sind, sich miteinander friedlich zu vereinbaren, also einen Ausgleich durch Recht zu finden. Von der Notwendigkeit eines New Deals wird jetzt schon gesprochen, in durchaus etablierten Kreisen. Der darf aber niemals stattfinden, unter Ausschluss der Bevölkerung. Denn es geht ja um ein neues, modifiziertes Regelsystem. Das kann einzig und allein von unten kommen, und dafür ist beispielhaft dieses „Kapitalismustribunal“ in die Welt gesetzt. Das Ziel ist dann, zu einem Rechtskanon zu kommen, der Grundlagencharakter hat und dann auch anwendbar sein wird.
Jörg: Wir sind eine Lobby, die versucht, Menschen zusammenzubringen, die die derzeitigen Regeln infrage stellen, weil sie aus dem Ruder gelaufen sind und nicht mehr funktionieren. Viele fragen uns: Kann man das denn einfach so anklagen? Natürlich kann man! Dafür sind wir eine Gesellschaft. Und da brauchen wir dann natürlich Unterstützung von Juristen, von Rechtshistorikern, die das noch mal in diese Sprache übersetzen können, aber wir brauchen eigentlich keine Hilfe um zu sehen, was richtig und was falsch ist – dafür haben wir ein gutes Gespür. Da gibt es so viele Fakten, da hat die Wissenschaft so viel bereit gestellt, und das wird alles negiert.
Die bisher eingegangenen Anklagen sind divers, richten sich gegen Machenschaften konkreter Unternehmen, gegen das System Jobcenter, den Kapitalismus als Wachstumsreligion oder auch die Verfasstheit der Arbeit. Wie verfahrt ihr damit, wie sehen die „Gerichtsverhandlungen“ ganz konkret aus?
Anselm: Wir sind nur das Organisationsteam und arbeiten mit vielen Partnern zusammen, damit es ein Gewicht und auch eine wissenschaftliche Tragweite bekommt und im besten Fall auch eine ganz ernste, politische Komponente eine Rolle spielt. Auf einer Konferenz im Haus der Kulturen der Welt soll eine Prozessordnung gefasst werden, und letztendlich trifft dann ein Team von Anklägern auf ein Team von Verteidigern, moderiert von Richtern. Das anwesende Publikum entscheidet möglichst im Konsensverfahren über Schuld und Unschuld der verhandelten Fälle und eine Jury legt ein Strafmaß fest.
Ihr lasst Experten die Fälle verhandeln, aber die Urteile sind ja nicht rechtskräftig. Ist das Tribunal also als sozial engagierte Kunst zu verstehen?
Hendrik: Es ist kein Kunstprojekt. Das wird jetzt nicht umgehend umgesetzt, die Urteile werden nicht exekutiert, trotzdem sind ja die Menschen, Diskussionen und die Verhandlungen sehr real und auch die Frage: Wie darf unsere Gesetzgebung nicht aussehen, wo scheitert sie, wo muss die derzeitige Rechtsordnung ersetzt werden? Da ist dann das Tribunal ein Schritt, der noch symbolisch ist, aber das dann auch umzusetzen, ist das Ziel.
Anselm: Das scheinen sich Menschen ja gar nicht mehr vorstellen zu können, woher das Recht eigentlich kommt, und da ist das „Kapitalismustribunal“ ein Pädagogium. Denn Recht ist ein „kultürlicher“ Vorgang, es gibt immer eine Rechtsetzung, wie zum Beispiel das Eigentum, das basiert auf Behauptung, das ist letztlich auch ein theatralischer Vorgang. Wieso können wir uns nicht mehr vorstellen, dass Recht nicht von Gott kommt, sondern dass das etwas Menschgemachtes ist, und auch geändert werden kann. Das ist eine ganz entscheidende Frage der Demokratie. Und wir diskutieren das im Theater, weil das ein Ort der Aushandlung, des Geistes und offenen Wortes ist.
Jörg: Letztendlich wird das groß durch die Anklagen der Leute, je mehr Anklagen geschrieben werden, desto klarer wird, dass das ein Gefühl ist, das sich durch die gesamte Bevölkerung zieht. Dass sich da etwas formiert gegen diese Unpolitik der Politiker, die uns nicht mehr vertritt, und die keine Probleme löst.
Die nächste „Vorverhandlung“ zum Thema Ökonomie findet am 18. Juli, um 20 Uhr im Heimathafen Neukölln statt, u.a. mit Graeme Maxton von The Club of Rome. Bei der dritten zum Thema Recht ist am 4. Oktober, um 18 Uhr u.a. der Regisseur und Politiker Volker Lösch zu Gast.