Von Marion Schulz
Als man glaubt, dass jeder weitere Schritt zum Kollaps führt, sprintet einer los. Klatscht seine Hand gegen die Hallenwand, reißt sich das T-Shirt vom Leib und schmeißt sich auf den Boden. Erst Liegestützen, Kniebeugen, am Ende Hockstrecksprünge. Und dann alles von vorne. Rasend sieht das aus, als hätte ihn ein Fieber gepackt. Es steckt die Gruppe an, die nun noch mehr gibt. Seit 45 Minuten machen sie das: Die Männer mit den Muskelbergen und die Dünnen und Kleinen, die noch von solchen Körpern träumen. Sie alle sind an dem Dienstagabend zum Training in die Neuköllner Wrestling-Schule gekommen.
Darunter ist auch Vanessa, eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren und schüchternem Mädchengesicht. Einen Moment lang schaut sie aus, als wolle sie aufgeben. Die Lunge pumpt, ihre Füße heben sich kaum noch vom Boden. Dann schreit sie ihre Erschöpfung einfach weg und läuft weiter. „Sehr schön. Sehr schön. Sehr schön“, lobt der Trainer. Er sagt: „Wir hören erst auf, wenn jemand kotzen muss.“
Kotzen mussten schon viele nach dem Training. Als Hussein Chaer endlich abpfeift und alle wie ausgeknipst auf den Boden sacken, rufen sie sich die Erinnerungen zurück. Ich habe mich nur beim zweiten Mal übergeben, sagt einer. Ich glaube, ich schon mehrmals, ein anderer. Die Meute lacht. Vanessa – 23 Jahre alt, 1,56 groß und 65 Kilo schwer, Kampfname „La Bestia“ – wird spätersagen: „Ich habe dabei noch nie gekotzt.“
Eine Halle voller Testosteron
Wer im Ring kämpfen möchte, muss sich im Training erst einmal selbst besiegen. Für die neben Vanessa noch zwei weiteren Frauen, die sich inmitten der 27 Männer regelmäßig in der Wrestling-Schule von Hussein und Ahmed Chaer beweisen müssen, scheint das noch mehr zu gelten, als für die anderen. Sie müssen ebenso lange durchhalten, genauso hart zuhauen und ihre Klappe nochweiter aufreißen. „In dieser Halle wimmelt es nur so vor Testosteron“, sagt Schulbetreiber Hussein Chaer, „es war am Anfang nicht leicht für die Damen.“
Seit 19 Jahren betreibt er gemeinsam mit seinem Bruder die Schule, die im Verband der „German Wrestling Federation“ (GWF) organisiert ist. Laut Hussein Chaer, der im Ring von den Zuschauernals „Crazy Sexy Mike“ bejubelt wird, der zweitgrößte Wrestling-Verband in Deutschland. In jedem Fall ist ihre Schule die größte im Land. Als er von seiner Truppe spricht, redet er ausschließlich in Superlativen. Er sagt: „Wir haben Frauen in den deutschen Wrestling-Sport eingeführt.“ Er sagt: „Ein paar der besten Wrestler Europas trainieren in unserer Schule.“ Und er sagt, was keiner so recht glauben mag, es aber auch nicht widerlegen kann: „Alles was im Ring passiert, ist 100 Prozent echt.“ Das alles kann natürlich wahr sein, oder nicht. Am Ende kommt es nicht darauf an. Wrestling-Fans suchen nicht die Wahrheit. Sie lieben das Spiel mit der Illusion. Und die Wrestling-Schüler trainieren hart dafür, eine Illusion zu schaffen.
Triumphierender Schrei in Godzilla-Pose
Zwei Stunden dauert das Training, zweimal die Woche. Daneben Fußball, Basketball, Handball für die Kondition. In der freien Zeit, die bleibt: Krafttraining. Vanessa sagt: „Pumpen.“ Wofür man diese Muskelberge braucht, zeigt sie auf der Matte. Zweikampf mit „Blue Nikita“, einer Wrestlerin, die schon seit 15 Jahren im Geschäft ist und leichtfüßig wirkt, wie eine Raubkatze. Vanessa nähert sich ihr mit ihrem schüchternen Mädchengesicht. Dann geht alles unüberschaubar schnell. Vanessa holt aus, packt sie an den Schultern, das hübsche Gesicht plötzlich zur Fratze verzogen, und schleudert sie auf den Rücken. Die langen dunklen Haare kleben ihr an der verschwitzten Stirn. Triumphierender Schrei in Godzilla-Pose. Da ist sie plötzlich, die Bestie.
Wrestling ist eben nicht nur anstrengend, es tut auch weh. Trainer Crazy Sexy Mike sagt: „Ein Wrestlerjahr ist wie sieben Menschenjahre.“ Trotzdem treibt es die Kämpfer jede Woche in die stickige Turnhalle und die meisten auch regelmäßig in den Ring. Jeder hat einen ganz eigenen Grund. Manche kommen, weil sie eine Gemeinschaft suchen, andere, weil sie gerne an ihre Grenzen gehen und dann gibt es die, die in dem Sport das Gefühl bekommen, dass wirklich alles möglich ist. Wie der mit Abstand Kleinste unter den Männern. Er sagt: „Das ist riesig. Man fühlt sich wie ein Rockstar.“ Vanessa sagt: „Ich liebe es, böse zu sein.“
„Einfach nur süß“
Viel später sagt sie das, an einem anderen Tag, während sie zu Hause in ihrem Neuköllner Wohnzimmer sitzt und ungesüßte Cola trinkt. Das schwarze Wrestling-T-Shirt hat sie gegen eines mit Bambi-Motiv getauscht. Hinter jedem Satz ein offenes Lachen. „Am meisten macht es mir Spaß, Kindern Angst zu machen.“ Lachen. „Neulich habe ich ein Kind in der ersten Reihe am Stuhl gepackt und dann so weggeschleudert.“ Und wieder das Lachen. So dass man nie wissen kann, ob sie das Gesagte wirklich ernst meint, oder nicht. Ob es diese Bestie, die sie für die Bühne erschaffen hat, auch in der Realität gibt. Image-Pflege wie ein Profi.
Dennoch, wenn man sie dort sitzen und kichern sieht, kann man sich nicht vorstellen, dass sie im Ring andere auf die Matte legt. Das mag ihr recht sein. Vanessa will ihren Nachnamen lieber geheim halten, weil sie nicht möchte, dass alle Menschen von ihrem ungewöhnlichen Hobby wissen. Die Jungs nicht, mit denen sie sich zum ersten Mal verabredet, nicht ihre Kollegen in ihrem Job als Industriekauffrau und auch nicht ihre Großmutter aus Calabrien, die sie nicht damit schockieren möchte. „Meine Familie“, sagt sie und stöhnt, „naja, die ist natürlich insgesamt nicht so begeistert.“ Der italienische Vater will nicht, dass die Tochter so viel mit Männern zu tun hat. Die Brüder wollen eine Schwester, die sich für typische Mädchendinge wie Ballett begeistert, die Mutter will nicht erleben, wie sich das Kind im Ring verletzt.
Das kommt schon mal vor. Vanessa zeigt, wo es besonders weh tut. Am Hals, wenn man am Boden liegt und jemand mit dem Oberschenkel drauf fällt. Oder an der Brust, wenn der Gegner wie ein Pfeil mit den Füßen voran dagegen springt. Vanessa nickt um ihre Worte zu unterstreichen. Hinter ihrem Kopf schauen alte Wrestling-Helden grimmig von der Zimmerwand. Vom Bücherregal lächeln Disney-Figuren aus Filmen, die sie gern mag. Disney-Märchen, die sie immer gemeinsam mit einer Freundin schaut, die sind ihre zweite große Leidenschaft. Vielleicht weil es darin manchmal zugeht wie im Wrestling. Gut kämpft stets gegen böse und das häufig auch in bunten Strumpfhosen. Vanessa zuckt die Schultern, schaut verlegen und sagt: „Ich weiß nicht, ich glaube, ich finde die einfach nur süß.“ Da ist sie wieder ganz Mädchen. „La Bestia“ hat zumindest für diesen Tag Feierabend.