Cocooning

Cover Demolierung 07: CocooningIm Jahr 2015 ist der Mietpreis in Neukölln durchschnittlich um etwa 6,6 Prozent gestiegen. Um der Marginalisierung Alteingesessener entgegenzuwirken, wurde der ehemals freie Ortsteil Berlin-Gropiusstadt vom neu eingesetzten Baudirektor in das einzig ausbruchssichere Gefängnis des Stadtteils verwandelt. (mehr …)

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Donnerstag, 7. April 2016

Die Kurzgeschichten von Alexander Krug wachsen mit jedem neuen Teil zu einem Buch heran. Du kannst zum lesen in den E-Book-Modus wechseln oder einfach darunter weiterlesen.

Es wird von einer sechs Meter hohen Mauer umgeben, welche parallel zur Johannisthaler Chaussee verläuft, weiter den Kölner Damm entlangführt sowie die Lipschitzallee und Rudower Straße umschließt. Sie umgreift ganz Gropiusstadt. Das gesamte Areal sowie die angrenzenden Straßen und Versorgungszugänge wurden für den Ernstfall vermint. Die Berliner Polizei ist wie eine Armee um die Trabantenstadt herum stationiert. Innerhalb der Enklave gibt es keine Wächter sondern nur Yuppies – und eine Welt, die sie selbst geschaffen haben. Die Regeln sind einfach: Wer erstmal drin ist, kommt nicht wieder raus. All diese Maßnahmen dienen der Befriedung und Sicherheit des Bezirks Neukölln. Diese Güter zu wahren, hat oberste Priorität. Sämtliche Polizisten sind dazu angehalten, im Notfall von ihrer Waffe Gebrauch zu machen.

Mein Name ist vollkommen egal. Er würde wahrscheinlich nur gegen mich verwendet werden, sollte das hier alles einmal an die Öffentlichkeit gelangen. Ich bin nur einer von vielen. Wäre es nach mir gegangen, ja, dann wäre ich jetzt im Norden Neuköllns und Teil des in Folge der Überflutung neu eingerichteten Wasserschutzes. Aber ich bin nur ein kleiner Polizist. Ich habe keine Gewalt über mein Schicksal. Es wird über mich entschieden und ich nehme es, wie es kommt. Ich bin gebürtiger Berliner – ja, die gibt es tatsächlich! Und ob Sie es glauben oder nicht, hinter dieser Mauer, vor welcher ich jetzt Tag für Tag patrouillieren muss, da bin ich aufgewachsen.

Enge, Trieb und giftiger Schweiß

In einem der Hochhausriegel, die sich da am Horizont entlangschlängeln. Jetzt stehe ich hier, achte darauf, dass niemand raus kommt. Ich kann den Ort meiner Herkunft nicht mehr am Geruch erkennen. Die Mischung aus alten Menschen, aus Enge, aus Trieb und giftigem Schweiß, die gibt es nicht mehr. Es riecht nach gebratenem Rindfleisch, nach Burgern. Wenn sie die Milchschäumer anschmeißen, dann vibriert das ganze Gemäuer. Von Zeit zu Zeit fliegen Tapas über die Mauer. Wissen Sie, was das ist? Ich habe das nie verstanden. Zu klein, um satt zu machen und zu leicht, um einem ein Loch in den Kopf zu schlagen. Da hinten, da ist die Rampe. Manchmal, wenn ein neuer Schienenersatzverkehr kommt, habe ich zu sortieren. Ich schütte dann den Inhalt der Weekender und Rollkoffer auf die Straße. Es gibt klare Vorgaben, was ein jeder mit in die Gropiusstadt nehmen darf. Pro Person ein Macbook, etwas Kleidung, Sanitärartikel.

Und anscheinend brauchen die wenigsten mehr als das, obwohl sogar Bücher erlaubt wären. Wir nehmen ihnen das Bargeld ab. Es interessiert sie nicht – solange es Internet gibt, so sagen sie, ist alles gut. Internet. Ich wohne nun mit meiner Familie in der Reuter- Ecke Weserstraße. Wir schauen vom Balkon direkt auf’s Wasser. Hätte mir jemand vor fünf Jahren gesagt, dass ich mir da einmal eine Wohnung würde leisten können, ich hätte ihn ausgelacht. Meine Frau sagt, der neue Baudirektor und seine rechte Hand, dieser Choltitz, die seien das Beste, was dieser Stadt habe passieren können. Ich kenne nur die rechte Hand. Manchmal kommt er zur Kontrolle vorbei. Er kennt die meisten hier persönlich. Er ist ein guter Mensch. Trotz Schießbefehl…

My name is Keith. I know at least ten other people who share this name. One I met a few weeks ago when the subways were under construction, changing trains, it was a damp Monday morning in front of this mall, where one of my favorite bars existed on the rooftop until it was burned down recently. I sat there often and worked, but I’m not sad that this place doesn‘t exist anymore.

There are quite a few other rooftops with free Wifi. We built them out of the wood, they gave us at the Lebensmittelabwurfzone. I’m sitting on something similar right now and from here I can look over the entire city. The apartments here are nicely laid out and tastefully furnished. They are a bit more expensive than the four others I’ve rented before, but either way I pay any price they ask. I don’t mind the wall. I heard somewhere, it’s not even going to exist anymore. But maybe I just misheard. Regardless with or without: I have everything I need here. And I live in Berlin. Berlin. The name says everything, is everything.

Sometimes I masturbate in front of the mirror…

…and say: Keith, you are a Berliner. I share an office with twenty others in Wohnhochhaus Ideal. There are a bunch of other shared offices in my building. I periodically meet one of the other Keiths there. The surface of things here are rather beautiful. And even as it slowly peels away, I see nothing but the myth of this city. And I’m a part of it! We all have more projects than friends. Sometimes I think we neither know the one nor the other so well. Excuse me for speaking with my mouth full. I have to manage this incredible huge burger from one of the five GBI’s around here. Uh… there’s another helicopter circling above me. I really like the sound intensity here. Whether on the roof or in the basement, it is exactly like I know it from the stories: doesn’t matter if it’s day or night, something is being torn down and something new is being created. It is all pure bass. I can recklessly and uncompromisingly test the waters and sow my wild oats, live it up. No one judges me for this. I love this city. I feel safe here. In spite of the gunfire…

Gropiusstadt – eine funktionierende Mikronation

Ich bin nicht der erste Choltitz, der es in die Geschichtsbücher geschafft hat. Aber so groß vermag ich dieser Tage gar nicht mehr zu denken. Ich bin erschöpft. Seit drei Monaten besteht meine Aufgabe darin, die Anlagen zu verwalten, die die Demolierungen geschaffen haben. Gropiusstadt war vielleicht seine Idee, aber letztlich war ich es, der sie in die Tat umgesetzt, diesen Ortsteil in eine funktionierende Mikronation verwandelt hat. Anfangs haben die Medien von einem Gefängnis berichtet und die Polizisten sich wie Schließer gefühlt. Tollhaus Berlin musste ich öfter lesen.

Sogar von einem Rückfall in alte Zeiten war die Rede. Aber je besser die Wohnqualität, desto besser das Urteil. Und einhergehend mit der Miete sinkt das Engagement. Ja, schön daherreden können sie alle. Wir haben immerhin was getan! Wir haben immerhin was getan…

Heute ist wieder großer Rundgang. 18 Beobachtungstürme, drei Führungsstellen, 25 Hundelaufanlagen und zwei Bunker gilt es zu inspizieren. Hände wollen geschüttelt und ein paar der Idee unschlüssig gegenüber stehende Seelen beschwichtigt werden.

Manchmal möchte ich ihnen einfach sagen, dass sie sich doch beruhigen sollen. Dass das alles hier nichts anderes als eine weitere Episode einer Kurzgeschichtensammlung ist. Das Geschichte machen, Geschichte schreiben nunmal so funktioniert. Aber für diese Methode der Bestandsaufnahme geht den meisten hier der Sinn ab.

Die können nicht weiter denken als –

Das gibt es doch gar nicht! Jetzt rennt da doch schon wieder so ein verdammtes Wildschwein rum!

„Fahrer! Sofort anhalten! Und mein Gewehr her, schnell!“ Wenn man sich nicht um alles selber kümmert. Diese Biester sind, ich meine… nicht umsonst habe ich einen Schießbefehl ausgegeben.

Text: Alexander Krug
Gestaltung: Paul Voggenreiter / Hirn Faust Auge
Cover: Joachim Lenz
Illustration: Jurek Urbanski